Monats-Archiv: Dezember 2019

Das Jahr der Proteste

Zweifellos erlebte das soeben zu Ende gehende Jahr eine Entfachung sozialer Unruhen in bisher ungekannter Gleichzeitigkeit. Allein im Herbst fanden in über zwanzig Ländern Massen­bewegungen und Aufstände statt, in manchen Fällen wurden sie gnadenlos in Blut ertränkt. Reicht das, um von einer globalen Revolte sprechen zu können? Bei einer solch kühnen Behauptung ist Vorsicht geboten. Sie lässt ja einen einheitlichen Willen vermuten, der offen­sichtlich nicht vorhanden ist.

Simultanität ist noch kein Beweis für Gemeinsam­keit. Die Schnitt­menge zwischen Protest­motiven etwa im Iran und in Haiti dürfte ziemlich gering sein. Insbesondere Katalonien und Hong­kong, wo die nationale Frage überwiegt, ragen aus der Gemengelage heraus. Regionale Zusammen­hänge sind da als bestimmende Faktoren plausibler. Wenn die Bevölkerung Algeriens, des Libanon und des Irak zeitgleich aufbegehrt, wird vermutlich der Arabische Frühling in Ländern fort­gesetzt, die 2011 aus verschiedenen Gründen nicht rebelliert hatten. In Latein­amerika wiederum fand offenbar ein Ansteckungs­prozess zwischen Ecuador, Bolivien, Chile und Kolumbien statt. Weiterlesen…

Soziale Gelbsucht – Ein Interview

L.I.S.A.: Herr Paoli, Sie haben jüngst und pünktlich zum Jahrestag der ersten sogenannten Gelbwesten-Proteste ein Buch mit dem Titel “Soziale Gelbsucht” veröffentlicht, in dem Sie ein Jahr “Gilets Jaunes” kritisch analysieren. Nun ist über die Bewegung der Gelbwesten bereits viel berichtet und geschrieben worden. Warum haben Sie sich nun mit dieser Protestform auseinandergesetzt? Welche Vorüberlegungen gingen Ihrem Buch voraus? 

Paoli: Über die Gelbwesten wurden zwar viele Berichte geschrieben, die meisten davon waren jedoch furchtbar verzerrend wenn nicht verleumderisch. Das hat mich empört, ich fühlte mich zu einer Gegendarstellung verpflichtet, obwohl ich kein politischer Journalist bin. In Frankreich war die Berichterstattung nicht besser, aber immerhin konnten Franzosen die von Gelbwesten besetzten Verkehrskreisel selbst besuchen und sich eine eigene Meinung bilden. Hingegen sind Deutsche, die sich informieren wollen, auf Auslandskorrespondenten und Leitartikler angewiesen. Die Gründe ihres journalistischen Versagens wären ein Forschungsgegenstand für sich… Weiterlesen…