Monats-Archiv: Mai 2016

Wenn der Ausnahmezustand zur Regel wird

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Gegenwärtig wird in Frankreich nicht nur der Aufstand geprobt, auch wird mit einer neuen Art der Aufstandsbekämpfung experimentiert. Um die jetzige Situation zu begreifen, muss man auf den Notstand zurückkommen, der seit den Novemberanschlägen herrscht und neuerdings bis Ende Juli verlängert wurde, offiziell um die Fußball-EM zu schützen. Zwei Faktoren verbinden diese Ausnahmesituation mit der laufenden Bewegung. Erstens hatten Valls und Hollande im Januar ihr Arbeitsgesetz als Teil eines „wirtschaftlichen Notstands“ erklärt, welcher den Antiterror-Notstand ergänzen sollte. Offensichtlich ging es hier um einen typischen Fall der „Schock-Strategie“ wie sie Naomi Klein beschrieben hat. Das Blutbad kam wie gelegen, um unbeliebte neoliberale Maßnahmen durchzusetzen. Die Sozialdemokraten rechneten damit, dass die traumatisierte Bevölkerung auf Proteste verzichten würde. Weit gefehlt, wie man weiß! Jetzt spotten die bürgerliche wie die rechtsextreme Opposition darüber, dass noch nie so viel demonstriert wurde, seitdem der Notstand verhängt wurde (und Frau Le Pen denkt bloß die Logik der Sozialdemokraten zu Ende, wenn sie ein generelles Demonstrationsverbot verlangt).

Hingegen ist der zweite Faktor schrecklich effektiv: Es sind die neuen repressiven Maßnahmen gegen die eigene Bevölkerung, die sich der Staat unter diesem Vorwand erlauben kann. Von Anfang an hatte Innenminister Cazeneuve die EU informiert, dass Frankreich gewisse Bürgerrechte temporär ausschalten werde. Das Versprechen wurde gehalten. In der Praxis gibt der Ausnahmezustand den Sicherheitskräften außerordentliche Ermessensspielräume zulasten der richterlichen Gewalt. So kann ein jeder aufgrund sogenannter „blanken Notizen“ festgenommen oder unter Hausarrest gestellt werden. Blanke Notizen müssen keinerlei Begründung enthalten. Sie werden von Nachrichtendiensten oder der politischen Polizeiabteilung „Renseignements Généraux“ aufbereitet und vom Innenministerium ausgestellt. Da haben weder Untersuchungsrichter noch Rechtsanwälte das Sagen. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass solche Methoden zu keiner Aufdeckung islamistischer Terrornetzwerke geführt haben. Hingegen wurden sie bereits ende November angewendet, um während der zehntägigen Klimakonferenz COP 21 (ob hier das „cop“ humoristisch gemeint war?) Öko-Aktivisten zu Hause festzuhalten. Das war nur ein Vorspiel.

In den letzten Wochen bekamen dutzende von Menschen einen Hausbesuch von Polizisten, die ihnen das Verbot übermittelten, an irgendwelcher Demonstration teilzunehmen, solange der Notstand gilt. Einzige Begründung war, dass sie als Teilnehmer vergangener Demonstrationen identifiziert worden waren, am Rand derer Ausschreitungen statt gefunden hatten (das heisst: so gut wie jede Demo). Einige erhoben Einspruch (darunter ein Pressefotograf), und in neun unter zehn Fällen erklärten Pariser Richter das Verbot für unrechtmäßig. Offenbar fühlte sich das Judikative gekränkt; ein Konflikt mit der Exekutiven bahnte sich an. Dann kam der Zwischenfall am 18. Mai. Weiterlesen…

Die französische Politik in schlechter Verfassung

„Sieben von zehn Franzosen haben sich in Umfragen gegen das Arbeitsgesetz ausgesprochen. Ein großer Teil der Gewerkschaften rebelliert ebenso wie viele junge Menschen auf der Straße. Mehr als 150 Polizisten sind seit Beginn der Demonstrationen verletzt worden. (…) Ja, Frankreich ist schwer zu reformieren, umso mehr muss sich eine Regierung von inneren Widersprüchen befreien.“ (FAZ)

 

Effekt eines Hartgummigeschosses der Polizei auf der Brust einer Studentin

Effekt eines Hartgummigeschosses der Polizei auf der Brust einer Studentin

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Willkommen zur Flashball-EM!

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Ein wichtiger Grund für das überstürzte Bestreben der französischen Regierung, mit Repression und Ausschaltung des Parlaments den andauernden Protest loszuwerden, sollte nicht außer Acht gelassen werden: Am 10. Juni fängt die Fussball-EM an. Damit dieses für Wirtschaft und Prestige belangvolles Event störungsfrei verläuft, wurde der Ausnahmezustand bis dahin verlängert.

Da am 13. November die Pariser Attentäter ein Blutbad im Stade de France anrichten wollten, ist die Befürchtung nicht unbegründet, andere Dschihadisten könnten es erneut versuchen. Daher war von vornherein klar, dass die EM unter maximalem crowd control statt finden würde. Jetzt steht aber die Sorge um andersartige Störungen im Vordergrund. Die Spiele werden in Paris, Lille, Bordeaux, Toulouse, Marseille, Nizza, St Etienne und Lyon ausgetragen. In all diesen Städten finden Nuit-Debout-Kundgebungen statt, in manchen ist die Militanz besonders hoch. Häufig werfen die Medien den Platzbesetzern vor, sie eignen sich öffentliche Räume für ihre private Belange an – ein lächerliches Argument, wenn man sieht, wie „öffentliche“ Räume der Warenherrschaft unterworfen sind. Der Skandal ist eben, dass die Besetzer miteinander reden, anstatt wie Schlafwandler einzukaufen. Sie geben sich nicht mit dem Ritual des Protests zufrieden (zwei Stunden demonstrieren, dann geht jeder nachhause), sondern nehmen sich das Öffentliche zurück.

Nun muss Platz frei gemacht werden, damit Fanmeilen eingerichtet werden. Platz frei für passive, atomisierte Massen, deren einzige Gemeinsamkeit das Zuschauen eines durchökonomisierten Spiels ist. Dort soll das realexistierende Europa wie es sich gebührt gefeiert werden, ein Europa des großen Geldes und der kleinen Bestechungen, ein Europa der Ohnmacht und der Überwachung. Und am Ende gewinnt Deutschland. Die Fanmeile ist das exakte Gegenteil der Nuit Debout. Eine Koexistenz ist ausgeschlossen. Nicht ohne Grund fürchtet die Staatsgewalt, dass das schöne Fest von Störenfrieden sabotiert werden könnte. Die internationale Aufmerksamkeit auf die EM wäre eine wunderbare Gelegenheit, die Gründe des Zorns bekannt zu machen und die Nachrichtensperre zu brechen, die u.a. in Deutschland herrscht. Das soll mit allen Mitteln verhindert werden. Weiterlesen…

Frankreich-Chronik, 1. April – 10. Mai 2016

Ich war in Deutschland fast der einzige, der Nachrichten über die Proteste gegen das Arbeitsgesetz und die Nuit-Debout-Bewegung in Echtzeit veröffentlichte. Darauf bin ich nicht stolz, viel mehr wütend über die Nachrichtensperre der Medien. Da ich die Meldungen über Facebook verbreitete, ein flüchtiges Medium,  sind hier einige wiedergegeben.

23. März.

Wie zahlreiche Gymnasien wird  das Pariser Lycée Bergson von protestierenden Schülern besetzt. Dieses Vidéo verbreitet sich viral übers Netz. Es zeigt, wie brutal Polizisten gegen die Jugend vorgehen und wird für Empörung und Gegenwehr sorgen.

1. April.

Paris gestern. In ganz Frankreich haben hunderttausende Arbeiter, Studenten und Schüler gegen die Pläne der sozialdemokratischen Regierung demonstriert, eine Art Agenda 2010 à la française durchzuboxen. In den letzten Wochen wurden insbesondere die streikenden Gymnasiasten einer selbst für Frankreich ungewöhnlichen Polizeibrutalität ausgesetzt. Wie man sieht, haben sie schnell gelernt, sich zu wehren. Endlich erhält das Wort “Radikalisierung” seine richtige Bedeutung wieder. Der Frühling könnte heiss werden.

https://www.youtube.com/watch?v=-DQIPCPbWYg&app=desktop

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Die Nuit Debout und ihr Double

Ach, wie schön ist gelebte Demokratie! Auf einem Platz kommunizieren Tausende, nicht über Facebook, sondern face to face, ohne Hierarchie, doch durchweg organisiert. Lückenlos reihen sich die Redebeiträge aneinander. Drei Minuten für die Antispezisten. Drei Minuten gegen das Finanzkapital. Drei Minuten für LGBT. Drei Minuten gegen Postkolonialismus. Drei Minuten für die Weltrevolution. Stundenlang. Tagelang. Aus der Zuhörerschaft kommt kein Applaus, kein Zwischenruf, kein Lacher. Statt dessen zeigen die disziplinierten Zuhörer ihre Zustimmung oder Ablehnung mit Händchenzeichen. Sie liken analog, sozusagen. Es gibt gar Signale um zu zeigen, dass der Beitrag zu lang ist oder dass die Bemerkung gerade sexistisch war. Das Prozedere stammt aus den USA und heisst „twinkle“, was unwillkürlich an das Kindergartenlied „Twinkle, twinkle little star“ erinnert. Tatsächlich hat die Besetzung das Zeug zum selbstverwalteten Freizeitpark. Dazu dürfen Meditationsworkshops nicht fehlen, ebenso wie Trommelgruppen, Malerei, Tanzzirkel und die obligatorischen Nerds, die das ganze per Livestream in die Welt schleudern. Auf diese Weise wird, so eine Aktivistin aus Deutschland, eine neue Art des Zusammenlebens erschaffen, voller Zuneigung, Fürsorge und Liebe. Das echte Leben im falschen.

Da es um das Hier und Jetzt geht, werden keine Forderungen gestellt. So wird keiner enttäuscht sein, wenn eines Morgens auf dem geräumten Platz der hinterlassene Müll von der Stadtreinigung beseitigt wird, dafür die soziale Misere unvermindert bleibt. Wer will überhaupt über eine Perspektive nachdenken? Von der Vielfalt der Wortmeldungen berauscht, übersehen die Teilnehmer leicht, wie sozial homogen sie eigentlich sind, nämlich in der überwiegenden Mehrzahl: weiße Stadtzentrumbewohner aus der Mittelschicht, Studenten, Akademiker, Kulturschaffende. Wer hätte sonst die Zeit, Abend für Abend endlos zu palavern? Wer hätte überhaupt die Lust?

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