Monats-Archiv: November 2015

Die Wegkuratierung des Widerspenstigen

Viele werden mir vorhalten, mein Beitrag sei subjektiv, persönlich und minoritär. Na und?“ (Pasolini)

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Einmal machte der französische Hofintellektuelle Jacques Attali eine interessante Bemerkung: Im Grunde, sagte er, ist heute jeder Standort, ob Land oder Stadt, nichts anderes als ein Hotel. In dieser Hinsicht ist es zwar wichtig, dass die Eingesessenen angemessen bezahlt werden und annehmbare Arbeitsbedingungen bekommen. Wichtiger ist aber, dass das Personal Eines begreift: Es ist nur da, um internationale Gäste zu empfangen und zu bedienen, jene globale Klasse, die für Forschung, Innovation und Wertschöpfung sorgt. Lässt der Service zu wünschen übrig, dann ziehen die Gäste in ein anderes Hotel und der Standort verkommt. Von diesem Modell verspricht sich Attali viele Vorteile und gar die Ankunft des ewigen Friedens: „Man kann sein Leben für ein Territorium, eine Kultur oder für Werte opfern; aber wer wäre schon bereit, für ein Hotel zu sterben?“

Daran musste ich denken, als Chris Dercon, der designierte Intendant der Volksbühne, im Interview erklärte: Berlin ist heute eine kosmopolitische Stadt. Hier leben viele hochgebildete junge Leute aus der ganzen Welt und sie können kein Deutsch. Da haben wir doch ein Problem mit dem deutschsprachigen Theater. Es wäre ja ungastlich, wenn nicht arrogant, auf einem Repertoire zu beharren, das die neuen Wahlberliner nicht verstehen. Für sie soll sich also die Volksbühne nicht-verbalen Kunstformen wie Tanz oder Performance öffnen. Zudem arbeite der Kurator an „einer neuen Art von Sprache“, ein Volksbühnen-Volapük, das er “Wortensembles” nennt. Die Bemerkung ließ Dercon unter vielen ähnlich gekünstelten Phrasen fallen; freilich kann man sie als Teil des obligaten Bewerbungsquatschs ignorieren. Doch ist sie als Symptom interessant. Hier haben wir es nicht bloß mit einem weiteren Intendantenwechsel in einem der vielen Häuser der Republik zu tun. Im Grunde geht es um die Art, Stadt zu besehen und neu zu definieren. Oder etwas pathetisch formuliert: um die Neutralisierung des Politischen. Darum dürften da selbst Menschen aufhorchen, die mit Theater nichts am Hut haben.

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