Interview mit der “Neuen Berliner Illustrierten Zeitung”, März 2024

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NBIZ: Guillaume, du hast gerade den Günther Anders Preis für dein Buch bekommen, und das hat mir auch eingeleuchtet. Aber abgesehen davon ist Günther Anders in dem Buch sehr prominent vertreten. Könntest du dazu ein paar Sätze sagen?

GP: Günther Anders ist für mich zunächst der Denker über Hiroshima und die Folgen der ersten Atombombe. Er ist der erste, der erkannt hat, was für ein Bruch in der menschlichen Erfahrung Hiroshima war. Und zwar nicht als Ereignis, sondern als Vorspiel. Hiroshima war die Ankündigung eines neuen Zeitalters, in dem theoretisch in jeder Sekunde die Welt durch Atomwaffen vernichtet werden könnte. Was macht das mit uns, dass jetzt und für immer die Auslöschung der Menschheit wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen schwebt? Und doch geht das Leben wie gehabt weiter, ohne sich wirklich Gedanken darüber zu machen. Anders wollte seine Zeitgenossen aufrütteln, sie mit dem konfrontieren, was er „Apokalypse-Blindheit“ nannte.

Auch über Auschwitz hat er geschrieben, aber da war er nicht der Einzige. Das taten auch Adorno und andere. Zumindest in Europa ist das Gedenken an Auschwitz viel präsenter als Hiroshima, obwohl jetzt mit dem Ukraine-Krieg die atomare Vernichtung wieder auf der Tagesordnung steht. Oft wird die Singularität des Holocaust betont. Im Gegensatz dazu steht Hiroshima für Wiederholbarkeit. Zumal heute etliche Länder in Besitz von Atomwaffen sind. Das zweite, was mich an Anders interessiert, ist die Verbindung mit seinen anderen Thesen, die man als Technikkritik zusammenfassen kann. Für ihn ist die Atombombe nicht als Einzelphänomen zu betrachten, sondern als praktisch logische Konsequenz des Technik-Problems. In Die Antiquiertheit des Menschen beschreibt er das Gefälle zwischen Herstellung und Vorstellung. Also: wie die Menschen die Konsequenzen ihrer Produktion nicht wirklich begreifen. Wie sie von ihren Produkten überrannt werden. Das scheint mir heute noch aktueller als zu seiner Zeit. Diese Klimaveränderung ist nur das Symptom einer größeren, umfassenderen Krise – eines Desasters, wie ich das nenne. Ich wollte untersuchen, inwieweit man Günther Anders‘ Thesen auf diese neue Situation übertragen kann.

NBIZ: Was sind die Unterschiede zwischen der atomaren Gefahr, wie er sie beschrieben hat, und der jetzigen Situation, die natürlich eine andere ist?

GP: Weil es jetzt eben nicht um eine künftige Gefahr geht, sondern um einen Prozess, der schon in Gange ist. Der Atomtod wäre ein plötzliches Ereignis, eine Sekunde und dann ist alles vorbei. Dafür sind Klimaerwärmung, Artensterben, Wasserknappheit usw. Teil einer langen, unheilvollen Entwicklung, wobei der Endpunkt an sich keine Rolle spielt. Aber in beiden Fällen versagt die Vorstellungskraft. Darum ist Anders wichtig.

NBIZ: Amitav Ghosh bezeichnet den Prozess der kolonialen Eingriffe als Terraforming, und setzt den Beginn 1621 an, als die Holländer eine Insel in der Banda See zur Erringung des Monopols auf die Muskatnuss eingenommen hatten. Du beschreibst in Deinem Buch sehr genau das Aufdrängen der westlichen Produktionsweise, was einhergeht mit der Zerstörung der ganzen indigenen Kulturen, die dort gelebt haben. Darüber hinaus können wir in diesen ehemals kolonisierten Regionen jetzt auch das Scheitern der dort übergestülpten westlichen Werte feststellen. Die westliche Produktionsweise wird gerne übernommen. Diese ganzen Moralvorstellungen, die auch der Westen bzw. die Kolonisatoren nie je eingehalten haben, werden ad absurdum geführt. Zu diesem historischen Aspekt, also wann die Grundlagen für die Klimaveränderungen eigentlich begonnen haben, würde ich gern noch mehr erfahren.

GP: Generell finde ich, dass der Frage, wie und wann alles anfing, zu viel Bedeutung beigemessen wird. Ab welchem ausgefallenen Haar genau hat man eine Glatze? Natürlich hat die Frage keinen Sinn: Eines Morgens schaut sich einer im Spiegel und stellt fest, dass er halt eine Glatze hat. Das Bewusstsein kommt immer nachträglich. Andererseits kann die Vorstellung der Wirklichkeit vorausgehen. Und sind nicht dann die Grundlagen irgendwie bereits vorhanden? Ich habe letztens gelesen, dass im 18. Jahrhundert ein Jesuit, Louis-Bertrand Castel, vermutlich der erste war, der behauptet hat, der Mensch sei imstande, das Klima zu verändern. Er wurde damals für einen Spinner gehalten. Die Einsicht hatte er nicht aus empirischer Forschung, obwohl es mit der Kolonisierung Amerikas schon Anzeichen gab, wie sich lokal Klimaverhältnisse durch menschliche Eingriffe veränderten. Aber das war von ihm eine logische Überlegung, ausgehend von der Frage: Was unterscheidet die menschliche Aktivität von den Tieren und Pflanzen? Es war genau die Zeit, als die Naturwissenschaft so einen Aufwind hatte. Nach Castel ist der Mensch kein rein natürliches Wesen, sondern ein künstliches. Die Sphäre des Künstlichen unterscheidet ihn von der Natur, und sie kann beliebig ausgedehnt werden. Er züchtet Tiere und Pflanzen, extrahiert Mineralien, es gibt eigentlich keine richtige Grenze, und irgendwann wird er wohl das Klima verändern.

Weil Castel Jesuit war, hing er an der Idee des freien Willens. Wenn du nicht die Freiheit hättest, zwischen Gutem oder Bösem zu entscheiden, wenn du von der Natur komplett beherrscht wärst, dann gäbe es keine Sünde. Darum war für ihn die Möglichkeit der Klimabeeinflussung nicht unbedingt ein Fortschritt. Es liege an der menschlichen Freiheit, ob die Auswirkungen gut oder böse ausfallen. Castel war zu sehr Theologe und zu wenig Philosoph, um einen Platz in der kanonischen Geschichte der Aufklärung zu bekommen. Aber heute wird er wiederentdeckt als einer der Vorreiter der Anthropozän-Theorien. Es gibt jetzt eine neue Geschichtsschreibung, die sich sehr darauf konzentriert, wie eigentlich diese künstliche Sphäre funktioniert und diese Umformung des Planeten. Insbesondere nach 1492 und der Kolonisierung Amerikas lässt sich die Entwicklung eindeutig nachverfolgen. Ich bleibe aber der Meinung, dass die entscheidende Phase die Industrialisierung im späten 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts war. Mit der vermehrten Energiegewinnung, dem Bevölkerungszuwachs und der Neuorganisation der Arbeit kommt dieser Prozess wirklich in Fahrt. Das lässt sich in vielen Tabellen und Grafiken nachlesen. Auch die berühmte Klimakurve beginnt dann nach oben zu schießen.

NBIZ: Das beschreibt Andreas Malm in seinem Buch „Fossil Capital“ sehr ausführlich, wobei es dem damaligen Kapital hauptsächlich darum ging, die Kontrolle über die Arbeitskräfte zu verbessern, und dass es nicht unbedingt nur der technische Fortschritt von der Wasserkraft zu der mit Kohle betrieben Dampfmaschine war, sondern die Verfügung und die bessere Kontrolle über die städtischen Arbeitskräfte. Das ist heute zur Perfektion gebracht worden, wenn man an die ganzen modernen Überwachungstechniken denkt, die in den letzten 40 Jahren eingeführt worden sind, nachdem sich der Neoliberalismus breitgemacht hat. Wie siehst du diesen Aspekt?

GP: Ich finde, Malm neigt hier leicht zur Verschwörungserzählung, als ob sich damals Kapitalisten gesagt hätten: „Liebe Kollegen, lasst uns eine industrielle Revolution machen, damit wir die Arbeitskräfte besser überwachen.“ Nein, das, worum es hauptsächlich ging, war die Kapitalvermehrung. Die Kontrolle über der Arbeiter war bloß eine Bedingung davon. Und wesentlicher noch, so zumindest die These in meinem Buch, war die Enteignung der Praxis, die mit dem Übergang vom Handwerk zur Industrie einherging. Da sind wir wieder bei Günther Anders. Was unterscheidet die industrielle Maschine von einem Werkzeug ? Die Maschine ist nicht bloß die Verlängerung oder Potenzierung der Kräfte ihrer Nutzer, sondern sie denkt für sie, bestimmt was sie zu tun haben, in welchem Tempo usw. Sie ist nicht mehr die Dienerin des Arbeiters, sondern der Arbeiter wird zu ihrem Diener. Da ist Überwachung ein noch zu niedlicher Ausdruck. Es geht um den Verlust der geistigen Kontrolle über das eigene Tun, was durch den Begriff der Entfremdung sehr gut beschrieben wird. Mit dem Aufstieg der sogenannten künstlichen Intelligenz erleben wir heute eine weitere Stufe der Proletarisierung, die um 1840 in den Fabriken von Manchester begann.

NBIZ: Ist es das, was du Marx zitierend mit der „Entfremdung als die zwangsläufige Auswirkung der Entfaltung der Warenlogik auf die Subjektivität“ beschreibst?

GP: Naja, jetzt wäre die Frage eher, was von der Subjektivität überhaupt übrigbleibt. Früher wurde die Automatisierung mit dem Argument rechtfertigt: Bald werden die Maschinen die ganze Drecksarbeit machen, dadurch werden die Menschen mehr Zeit haben, um sich kreativ zu betätigen. Jetzt übernehmen intelligente Maschinen auch noch die kreativen Tätigkeiten! Sie schreiben Bücher, machen Musik etc. Und was bleibt den Menschen? Sie schauen zu, wie sich die Intelligenz von ihnen losgelöst hat und selbständig agiert. Und dennoch haben sie immer weniger Zeit für sich.

NBIZ: Jetzt müssen wir vielleicht auch noch mal auf die Reaktion auf die vielen Krisen kommen, die Du alle zusammengefasst als Desaster bezeichnest. Dein wunderbarer Spruch Krieg den Symptomen, Friede den Ursachen, dass die Politik in eine Richtung geht, die völlig entgegen dem ist, was eigentlich getan werden müsste. Der schreckliche in vielen Ländern aufstrebende Nationalismus, der Kampf gegen die Migration, überall neue Mauern, autoritäre Regierungsformen, lückenlose Überwachung und sich neu bildende, fragwürdige Allianzen. Sehr spannend sind die Spekulationen, dass wenn Trump noch einmal Präsident wird, die USA der BRICS beitreten werden. Dieser Wirtschaftsverbund garantiert den freien Kapitalfluss, aber die Teilnehmer dieser Allianz verurteilen nicht die Unterdrückungstechniken der anderen, die sie selbst benutzen. Das sind Tendenzen, die auch zeigen, dass die vom Westen hochgehaltenen demokratischen und freiheitlichen Werte ziemlich im Argen liegen. Die Frage ist nach den politischen Reaktionen auf diese immer vielfältigeren Krisen und was für Antworten momentan gegeben werden können.

GP: Es geht ja nicht nur um politische Reaktionen. Auch um den Zustand des medialen Systems und natürlich auch der Industrie. Wie gesagt, allein von einer Klimakrise zu sprechen ist schon eine mächtige Verengung des Problems. Die Klimaerwärmung ist das Fieber und nicht die Krankheit. Solange der Fokus auf Symptom-Behandlung liegt, wird der Frage ausgewichen, warum sich das Klima erwärmt. Man konzentriert sich darauf, technische Lösungen zum CO2 Ausstoß zu suchen, bringt wunderbar neue Industrieprodukte auf den Markt, und die Ursachen werden nicht angetastet. Und doch ist das Klima nicht das einzige Symptom, weitere gibt es zuhauf: den Zugang zu sauberem Wasser zum Beispiel, die Abholzung, den Stickstoffkreislauf und vor allem das massive Aussterben von Tier- und Pflanzenarten. Damit lässt sich aber kein Geld verdienen, deswegen werden solche Faktoren vernachlässigt. Es mag für all diese Phänomene jeweils partikulare Gründe geben, aber sie korrelieren miteinander.

Und natürlich hängen alle mit einer bestimmten Art der Übernutzung des Planeten und einer Art des Wirtschaftens zusammen, die sich Kapitalismus nennt. Das ist schon seit 200 Jahren bekannt und daran ist nicht zu zweifeln. Besonders traurig finde ich dabei, dass das Bewusstsein vor 50 Jahren weiterentwickelt war als heute. Sicher war der Club of Rome keine revolutionäre Vereinigung, sondern eine Ansammlung von Technokraten, die das industrielle System umstellen und retten wollten. Immerhin waren die Grundprobleme damals erkannt und analysiert worden, und selbst das ist verloren gegangen. Es wird nicht mehr strategisch und langfristig gedacht. Das ist vielleicht noch am beunruhigendsten. Die Politik läuft hinterher. Dass sie irgendetwas verändern konnte, daran glaubt eh niemand mehr. Auf der nationalen und staatlichen Ebene kann nichts Wesentliches getan werden. Die Herausforderung ist ja eine globale. Die Erderwärmung kennt keine nationale Grenze. Und die gegenseitigen Abhängigkeiten im Weltmarktsystem lassen Einzelländern keine Spielräume zu. Schaut man mal auf China, Afrika und Europa, da kann von Kooperation und gemeinsamer Regulierung keine Rede sein. Vor 50 Jahren gab es zumindest die Idee, dass globale Institutionen die Problemen regeln könnten.

NIBZ: Hat sich die Politik durch den Liberalismus selbst entmündigt?

G.P.: Ja. Meine Hypothese ist sogar, dass es damals gerade die Funktion des Neoliberalismus gewesen ist, eine konsequente Abkehr von umweltzerstörendem Wachstum unmöglich zu machen. Denn das hätte die Entstehung supranationaler Institutionen bedeutet, die verbindliche Regeln und natürlich auch Verbote ausgesprochen hätten. Die Reaktion des Kapitals war: Nur über meine Leiche! Anstatt den Stoffwechsel mit der Umwelt zu regulieren, wurde alles dereguliert und dem Markt überlassen. Die UNO wurde dadurch immer überflüssiger, und alle paar Jahre wird eine Klimakonferenz ausgerufen, die ihre guten Vorsätze und ihre Ohnmacht kundtut.

NBIZ: Du bist zwar nicht konsequent, aber hast eine Kritik an diesem ewigen Wir-sagen. Wir müssen, wir sollen, denn es ist fünf vor zwölf! Wir, ja! Unbedingt! Beim nochmaligen Lesen habe ich dann gesehen, dass du manchmal doch das Wir gebrauchst. Würdest du da noch etwas zu sagen können?

G.P. Ich bin natürlich nicht für ein absolutes Verbot des Personalpronomens Wir. Wenn ich sage: „Wir trinken jetzt ein Kaffee“, dann sind ganz klar die vier Menschen hier in diesem Raum gemeint. Auch „wir Menschen“ im Unterschied zu sonstigen Tieren ist ein klar bestimmtes Kollektiv. Da gibt es keine Ambiguität. Was ich kritisiere, sind all diese Sachbücher, die Monat für Monat auf den Markt kommen: „Wie wir die Welt verändern können“, „Wie wir neu denken müssen“. Wer ist da gemeint? Das wird nie gesagt, als ob alle Teil einer Community seien und gleichberechtigt mitreden und mitentscheiden könnten. Dieses Wir ist nichts als Augenwischerei.

NBIZ: Das Wir ist eigentlich mit Einführung des Neoliberalismus ad absurdum geführt worden, wo gesagt wurde, eine Gesellschaft als solche gibt es nicht. Es gibt nur den einzelnen Menschen, was eine Untergrabung des Wir und der solidarischen Handlungsweisen ist. Sollte man dies so verstehen?

G.P.: Ja, und ich meine, bezogen auf die Klimaproblematik: Von wem ist eigentlich die Rede? Nicht von der Menschheit an sich. Natürlich gibt es einen Riesenunterschied zwischen Menschen in Afrika und Menschen in Europa und innerhalb von Europa zwischen den Menschen, die unter die berühmten 1%, vielleicht sogar nur 0,1 % fallen, die die meisten Klima-Emissionen verursachen. Welchen Einfluss hat der Bürgergeldempfänger? Bei Klima-Emissionen gibt es eben kein Wir. Verschleiert wird die riesige Ungleichheit, nicht nur in Einkommen und Konsum, sondern auch in der Entscheidungsmacht. Die Idee vom Anthropozän besagt eigentlich, dass Wir, die Menschheit, den falschen Weg genommen haben. Aber wenn man genau hinschaut, sind die folgenschweren Entscheidungen immer von einer winzigen Minderheit getroffen worden. Die anderen wurden nicht gefragt. Das heißt nicht, dass sie unbedingt bessere Entscheidungen getroffen hätten. Aber man darf nicht so tun, als ob Menschen immer so ganz demokratisch und einstimmig entschieden hätten, z.B. Autos zu fahren, oder Atomstrom zu nutzen. Und das primäre Ziel solcher Entscheidungen war nicht, der Menschheit oder der Gemeinschaft zu dienen, sondern immer Geld zu verdienen. Da verschwindet dieses Wir vollkommen!

NBIZ: Du zitierst Valery: “Es ist notwendig, die Geister für das Schicksal des Geistes zu interessieren.“ Du erwähnst dann ein paar Leute, die sich um den Begriff des Geistes Gedanken gemacht haben. Hast Du denn eigentlich eine eigene Meinung dazu? Das weiß ich gar nicht. Ich lese es dir mal vor, was du schreibst: „Die Umwelt der Lebenden ist vom Geist der Ahnen beseelt. Geist sei also weder Objekt noch Subjekt, sondern eine Dynamik, eine wechselseitige Beziehung zwischen Psyche und Medium wie zwischen Individuum und Gattung.“ (S.157).. Könntest du über dieses ominöse Wort Geist ein paar weitere Gedanken verlieren?

G.P.: Ominös ist das Wort tatsächlich, weil es meistens individuell verstanden wird, also das Begleitstück von „Körper“. In Englisch gibt es deswegen zwei Begriffe, mind und spirit. Wie Valery und auch Hegel verwende ich Geist im Sinne von Spirit, also die Summe der menschlichen Erfahrungen, vergangenen wie aktuellen. Wir „haben“ keinen Geist, wir schwimmen im Geist. Mir ist der Begriff deswegen wichtig, weil zurzeit eine kitschige Denkschule in Mode ist, die zwischen dem Menschen und den anderen Lebewesen nicht mehr unterscheiden will. Im Gegensatz zum Tier gibt es aber zwischen Mensch und Bedürfnis eine ganze Welt. Da sind wir wieder bei Castels künstlicher Sphäre. Der Kaffee, den wir jetzt trinken, kommt aus Kongo, der Zucker aus Brasilien, die Tasse aus China, der Löffel meinetwegen aus Norwegen, und all diese Dinge sich möglicherweise auf philippinischen Frachter verschifft worden. Da steckt schon der ganze Welthandel in einer Tasse!

Und nicht nur das. Die Kaffeepflanze wurde vor Jahrtausenden in heutigem Äthiopien gezüchtet, und bis zu unserem heutigen Kaffeegenuss verläuft eine lange Geschichte von Traditionsvermittlung, technischen Weiterentwicklungen, Tauschgeschäften, Sklaverei, Kolonialismus, Finanzspekulation, allerlei geistigen Prozessen. Dabei erstreckt sich diese Dynamik weit über die unmittelbaren Bedürfnisse hinaus. Fürs Überleben ist Kaffee nicht notwendig. Zucker auch nicht. Das heißt: Es entstehen andere Werte. Das meine ich erstmal ohne jede Bewertung. Es gibt nicht nur moralische oder kulturelle Werte, sondern ganz banal das, was überhaupt als wertvoll betrachtet wird. Auf dieser Ebene gilt das genaue Gegenteil von dem, was ich vorhin behauptet habe: Es gibt kein Ich. Jeder ist in einem Netzwerk von Meinungen, Praktiken und Wertsetzungen gefangen, die unabhängig von ihm existieren. Und es sind nicht bloß Vorstellungen, die über die wirkliche Welt so schweben würden. Valery definierte der Geist als „transformative Kraft“. Dadurch wird die ganze Erdoberfläche umformt.

NBIZ: Du erwähnst die von Wladimir Wernadski so benannte Noosphäre. Ist das nicht die geistige Sphäre?

G.P.: Ja klar, Noos oder Nous ist altgriechisch für „Geist“. Wernadski hat allerdings eine nicht-religiöse Auffassung davon. Nicht der Heilige Geist ist gemeint, auch nicht das „Schöngeistige“, die Poesie und so weiter, sondern bei ihm hat Geist immer auch mit Technik zu tun, mit materiellen Veränderungen. Er hat ein materialistisches Verständnis von Geist.

NBIZ: Ja, ja, da kommen wir vom Geist aber jetzt zunehmend zum Müll. Und der Müll ist ja auch vieles, was der Geist schon erkannt hat und was ständig wieder ad absurdum geführt wird. Der Geist wird nicht richtig recycelt. Wird vieles nicht einfach vergessen?

G.P.: Vergessen oder nicht betrachtet, ob bewusst oder unbewusst. Schließlich ist die Frage nicht so wichtig, ob bestimmte Erkenntnisse gewollt oder unfreiwillig unterdrückt worden sind. Ich zitiere zum Beispiel Stanley Jevons aus dem 19. Jahrhundert, der damals schon voraussagte, dass die kohlebasierte Wirtschaft nicht von Dauer sein konnte. Sein nach ihm benannten Paradoxon lautet, dass eine Steigerung der Energieeffizienz nicht weniger, sondern mehr Verbrauch zur Folge hat. Man konnte also damals schon wissen, dass die Fossilwirtschaft negative Folgen haben würde. Heute wird so getan, als ob wir um eine Erkenntnis reicher seien, die früher leider gefehlt habe. Wer hätte dran gedacht, dass die Umwelt nicht mehr brauchbar sein wird, Tierarten verschwinden und die Luft schlecht wird? Doch im 18. und 19. Jahrhundert gab es Kritik im vollen Bewusstsein, dass die Industrialisierung Müll entstehen lässt. Das wurde aber damals erstmal für unwichtig gehalten.

NBIZ: Heute werden immer noch viele Sachen als unwichtig angesehen, die keine neuen Erkenntnisse zu sein scheinen. Wie erklärst Du Dir das?

G.P.: Es gibt sichtbaren Müll und unsichtbaren. Zum Beispiel wird jetzt als ökologisch verkauft, dass man für ein Arbeitstreffen, anstatt das Auto zu nehmen oder zu fliegen, sich über das Internet trifft. Dennoch erzeugen auch digitale Netzwerke eine Menge CO2-Ausstöße. Aber diesen Müll sieht und riecht man nicht. Hierzulande sieht doch alles ganz sauber aus. Anders als in den 70er Jahren können wir sogar in dem Rhein baden und die gute Luft atmen. Aber nur weil der ganze Dreck in andere Länder verlagert wird. Nicht nur die schmutzigen Industrien, sondern auch die Beseitigung und Verbrennung unseres Plastik- und Elektroschrotts.

NBIZ: Einer deiner Gewährsleute neben Günther Anders ist Ivan Illich. Könntest du über ihn etwas sagen?

G.P.: Du meinst, was Illich für eine Philosophie hatte? Er war erstmal eine faszinierende Persönlichkeit. Illich hat in den unterschiedlichsten Bereichen geforscht. Was ich bei ihm sehr einleuchtend finde, ist der Begriff der Kontraproduktivität, den er geprägt hat. Er zeigte dies am Beispiel des Autos auf. Du kaufst ein Auto, weil du denkst, mit dem Auto bist du schneller. Aber weil viele so wie du denken, steckst du im Stau. Damit nicht genug: Wenn du nicht nur die Zeit rechnest, die du für die Fahrt brauchst, sondern dazu die Arbeitszeit addierst, die nötig war, um dein Auto zu kaufen, Benzin zu tanken, usw., dann ergibt sich das, was Illich „reale Geschwindigkeit“ nennt, also die gesamte Zeit, die verwendet wurde, um soundso viele Kilometer zu fahren. Und Illich rechnete damals, dass die reale Geschwindigkeit eines Autos gerade mal sechs Kilometer pro Stunde beträgt. Je teurer das Auto, desto geringer die Geschwindigkeit. Solche Gedanken fand ich interessant, weil das geht über diese Idee von Verzicht hinaus. Gewöhnlich wird Konsumkritik mit Verbot, Entsagung und freiwillige Armut assoziiert. Aber ist einem die Absurdität kontraproduktiver Vorgänge bewusst, dann kann man leichten Herzens darauf verzichten. Und das betrifft nicht nur das Auto. Kontraproduktive Effekte hat Illich in Städtebau, Bildung, Gesundheitssystem nachgewiesen.

Das gefällt mir an ihm: Seine Kritik war keine verbissene, sondern eine fröhliche. Wenn man Illich liest, fühlt man sich heiter. Anders als bei gewöhnlichen kritischen Theoretikern. Da macht die Lektüre meistens schlechtgelaunt, weil sowieso am Ende alles scheiße ist. Illichs ironische Betrachtungsweise verändert deinen Blick auf die Welt. Dabei war er ein Praktiker, er war in Mexico, Puerto Rico und auch sonst in Südamerika aktiv. Er war auch einer der ersten Kritiker der Entwicklungshilfe. Seiner Meinung nach sind Entwicklungshelfer die modernen Missionare und Kolonialbeamten, weil sie abstrakte Lösungen anbieten, die an den Fertigkeiten und dem Können der einheimischen Bevölkerung völlig vorbeigehen. Favela-Bewohner wissen besser als irgendwelche Experten was ihnen fehlt, was sie brauchen und auch was sie aufbewahren wollen. Anstatt auf sie zu hören, wird aber meistens alles platt gemacht und ihnen ein technokratischer Plan auferlegt. Illich hegte große Hoffnungen in die Dritte Welt. Er dachte, dass Bevölkerungsgruppen, die mit der westlichen Lebensweise noch nicht völlig kontaminiert sind, auf die eigene Kultur, die eigene Technik zurückgreifen könnten. Weil sie mehr an ihrem Ort verbunden sind, seien sie für die kommenden Katastrophen besser gewappnet als die Bewohner der reichen Länder, die von Staat und Kapital völlig abhängig sind. Das meinte allerdings Illich vor 50 Jahren. Heute würde ich mehr Zweifel haben. Einfach weil die Zerstörung auch in den armen Teilen der Welt massiv zugenommen hat. Was nutzt den Amazonas-Völkern eine Tradition, die mit ihrer Umwelt völlig in Einklang war, wenn die Amazonas komplett abgeholzt werden?

NBIZ: Was bezeichnest Du mit Heteronomie?

G.P.: Heteronomie ist das Gegenteil von Autonomie. Illich nannte es „modernisierte Armut“. Es ist die Unmöglichkeit, auf Wissen, Methoden und Techniken zu greifen, die am Ort historisch gewachsen waren, weil diese verlernt worden sind. Folglich ist man staatlichen und marktförmigen Strukturen völlig ausgeliefert.

NBIZ: Ich möchte noch mal auf Günther Anders zurückkommen. Wenn der von Wir redet, meint er ja die ganze Menschheit, die z.B. durch die Atomtechnik bedroht ist. Anscheinend spielen heute einige Kapital-Fraktionen mit dem Gedanken, wie im Fall Russland, es auf einen Atomschlag ankommen zu lassen. Das greift zum Beispiel die kluge Mitarbeiterin der taz, Ulrike Hermann, auf, wenn sie sagt: „Europa braucht jetzt auch Atomwaffen“. Und der ehemalige Leiter der Heinrich Böll Stiftung, nunmehr Geschäftsführer des finsteren European Resilience Initiative Center, Sergej Sumlenny findet: „Der sicherste Weg zu einem nachhaltigen Frieden ist es, das nukleare Russland zu zerstören. Einige Atombomben könnten dabei explodieren, aber sie werden ohnehin explodieren.“ Die Liste der Kriegslüsternen, die so reden, wächst täglich. Vor allem angloamerikanische Kapital-Fraktionen scheinen diese Idee zu forcieren. Wohl, weil einige kalkulieren: „Wir überleben das“. Wenn ein paar Milliarden Menschen oder wie viel auch immer dabei draufgehen, dem Planeten tut das nur gut. Das ist auch eine Art von Öko-Politik. Sie bereiten sich auf einen Atomkrieg vor und erwerben gleichzeitig sichere Villen auf Neuseeland. Eine andere Kapital-Fraktion, nenne wir die die Silicon-Valley-Highflyer, will anscheinend auf den Mars ausweichen. Wie stehst Du zu dieser Problematik?

G.P.: Ich glaube, der Unterschied ist, dass es früher, das heißt also im Verlauf des Kalten Krieges, vor allem diese zwei großen Atommächte gab, wo jeder genug Bomben hatte, um die Erde dreimal zu zerstören. Es ging um Abschreckung, nach dem Motto: Wenn du anfängst, okay, dann ist in drei Minuten auch für dich alles vorbei. Seitdem sind sogenannte taktische, also kleinere Atombomben vermehrt gebaut worden, mit dem Kalkül, dass diese eingesetzt werden können, ohne dass es zu einem finalen Showdown kommt. Dazu kommt, dass neben den USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich mittlerweile auch Pakistan, Nordkorea, Israel und vielleicht der Iran Atombomben haben. Das deutet auf potenzierte Kriege hin, aber wohl nicht auf die atomare Apokalypse, wie sie in den 50er oder 60er Jahren potenziell vorhanden war. Davon abgesehen ist die neue Kriegslüsternheit umso absurder, als die ungeheure Menge an Geld und Energie, die in Aufrüstung investiert wird, für die viel dringenderen und existenziellen Herausforderungen fehlt. Verwunderlich ist es nicht, dass dabei die Grünen an der vorderster Front sind, um die „Rettung des Klimas“ auf unbestimmte Zeit zu verschieben, denn wie K.I.Z. singen: „Erst müssen wir gewinnen, ey“.

NBIZ: Die möglichen Klimafolgen sind noch nicht geklärt und auch nicht die von der Strahlenbelastung verursachten genetischen Veränderungen bei Flora und Fauna in Tschernobyl. Darüber hinaus weiß man heute noch nicht, was der aktuelle konventionelle Krieg in der Ukraine für die Umwelt bedeutet. Relativiert das die Apokalypse durch einen Atomkrieg?

G.P.: Es gibt zwei Sorten von nicht geklärten Dingen: Diejenigen, die man nicht klären kann, weil sie in der Zukunft liegen und kein Präzedenz haben. Falls sie doch eintreten, wird dann die Klärung zu spät kommen. Und es gibt die Dinge, die man nicht klären will. Zum Beispiel sterben heute noch in Algerien etliche Menschen an Krebs infolge früherer Atomversuche Frankreichs. Aber eine amtliche Bestätigung dafür gibt es nicht.

NBIZ: Für die Tierwelt und Pflanzenwelt hätte das auch einen Vorteil. In Amerika gibt es 8.000 riesige verseuchte Gebiete, die belebter sind als jeder Nationalpark. Also mehr Tiere und mehr Pflanzen. Weil es keine Nationalparks sind, dürfen Jäger, Angler und Touristen dort nicht rein. Das lässt die Flora und Fauna natürlich ungestörter.

G.P.: Bei aller Liebe zu den Tieren und Pflanzen, ich sehne mich nicht nach einer menschenleeren Erde.

NBIZ: In den von Tschernobyl verseuchten Gebieten, in Weißrussland und der Ukraine, will man auch einen Nationalpark machen. Der hätte das Nukleare dann schon im Namen. Das ist wahrscheinlich erst mal durch den Krieg gestoppt. Nach dem Krieg kann die halbe Ukraine ein Nationalpark werden. Wir sind jetzt schon bei dem Schlimmsten angelangt. Du plädierst dafür, dass vor dem grassierenden Desaster zu mindestens das Denkvermögen zu retten sei. Ich weiß auch noch nicht, wie genau das geschehen soll. Wobei du explizit darauf beharrst, keine Handlungsanweisungen geben zu wollen. Das ist eine These oder eine Forderung, die ich nicht ganz genau verstanden habe, wie das passieren soll? In deinem 115. Kapitel beschreibst du eine Vision. Die Proteste nehmen zu. Die Leute kommen wieder zu kleineren oder größeren Widerstandsformen. Im Augenblick gibt es von den Bauern diese Traktordemos. Die gibt es in Indien, Italien, Griechenland und Polen. Aus diesem Kapitel kann man einen kleinen Hoffnungsschimmer lesen, oder?

G.P.: Der Begriff der Hoffnung interessiert mich nicht. Ebenso wenig die Pseudoalternative zwischen Optimismus und Pessimismus. Hoffnung, meinte Günther Anders, ist ein anderes Wort für Feigheit. Finde ich als Definition nicht schlecht. Rezensenten meines Buches haben es als sehr pessimistisch beschrieben, aber das ist ein Missverständnis, denke ich. Meine Absicht war es jedenfalls nicht. Im Buch wird auch Mike Davis zitiert, der meinte: Menschen kämpfen nicht aus Hoffnung, sondern aus Liebe und Zorn. Letztlich gab es in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel zur Klimaerwärmung, und die Leser konnten klicken zwischen einer pessimistischen und einer optimistischen Version des Berichts. Die Fakten sind dieselben, aber man kann sie so oder so darstellen. Vermutlich ist es das, was letztendlich von der Demokratie übrigbleiben wird. Am Tag danach gab es in derselben Zeitung einen Leitartikel mit dem Titel, eigentlich einem Zitat von Karl Popper: „Optimismus ist Pflicht“. Das klingt doch wie eine Drohung! Mich macht diese Pflicht zum Optimismus erst recht pessimistisch. Wenn man die Herkunft des Wortes Optimismus sucht, gelangt man auf die Theodizee von Leibniz, also die Vorstellung, wir lebten in der optimalen Welt. Sogar Gott konnte keine bessere schaffen. Einiges ließe sich vielleicht noch optimieren, aber nur im Rahmen der bestehenden Ordnung. Es gibt keine Alternative: das ist die eigentliche Botschaft des Optimismus. Wenn ich schreibe, dass man versuchen kann, zumindest das Denkvermögen zu retten, dann eben angesichts dieser Art von Haltung, die da verpflichtend propagiert wird. Ja, man muss unbedingt positiv sein. Hoffnung stirbt zuletzt, usw. Diese quasi religiöse Sicht angesichts des Desasters finde ich ziemlich fatal. Jeder sollte versuchen, sich frei davon zu machen. Man fühlt sich dann auch viel besser.

NBIZ: Aber du hoffst, dass diese Proteste weitergehen.

G.P.: Es hat mich gefreut, dass die Tesla Erweiterung von 2/3 der dortigen Bevölkerung abgelehnt worden ist. Es hätte überhaupt keinen Bau dieser Fabrik geben dürfen. Und es hat mich noch mehr gefreut, dass Saboteure die ganze Fabrik für ein paar Tage lahmlegen konnten. Good job! Solche Protestaktionen sind wichtig, und zwar unabhängig davon, ob sie erfolgsversprechend sind oder nicht. Hoffnung spielt dabei keine Rolle, es ist einfach eine Frage der Selbstachtung, dagegen zu sein.

NBIZ: Ich sehe das Buch ein bisschen analog zu Adornos „Minima Moralia“. Immer wenn du an deiner Lektüre Vergnügen hattest, hast du ein neues Kapitel geschrieben. Dabei hast du dir eine Art von zwei Leitplanken vorgegeben, dass du nicht ganz abdriftest. Ich würde dies jetzt nicht als Aphorismen bezeichnen. Diese 123 Kapitel kann man nur gewaltsam synthetisieren. Da fällt dann wieder vieles raus. Was ist jetzt die Quintessenz? Oder worauf wolltest du hinaus? Wo ist die rote Linie?

G.P.: Die erste Motivation ist immer: Man sucht nach Dingen und findet sie in keinem Buch, deswegen schreibt man sie. Es sind Essays, die ich schreibe. Essays sind eben nicht wie philosophische Traktate mit einer Demonstration von A nach B nach C, die man mit einem roten Faden verfolgen kann. Diese 123 Essays mäandern. Das war schon so bei Montaigne, der ja der Begründer des Genres war. Kleine Texte, wo man nicht unbedingt sofort eine logische Abfolge erkennt, sondern man einen Gesamteindruck durch die verschiedenen Facetten bekommt. Ich glaube, um die jetzige Zeit zu beschreiben, fehlt mir der Überblick, und es geht nicht nur mir so. Ich sehe nicht, wie man eigentlich heutzutage einen Überblick haben kann und deswegen habe ich versucht (Essay heißt „Versuch“), verschiedene Aspekte herauszupicken und die dann in möglichst kurzen Blöcken zusammenzufassen. Mich interessiert die Form auch stilistisch, denn man verpflichtet sich dann, stringent zu sein, keine überflüssigen Sätze zu schreiben, sich maximal zu konzentrieren, um diese Vielfältigkeit zu ermöglichen. Die Einheit davon bin ich selbst. Im Schreibprozess wird alles integriert, was ich auf dem Weg finde. Daher kommt auch die Pandemie vor. Die gute Seite des Lockdowns war, ich hatte meine Ruhe und konnte mich auf das Schreiben konzentrieren. Es gab ja nichts anderes zu tun, und das war eine willkommene Ablenkung. Viele Dinge, die ich erwähne, würde ich eher als Hypothesen beschreiben. Wobei ich mir nicht mal ganz sicher bin, ob sie unbedingt stimmen. Zusammen genommen war das Schreiben eher eine Art Übung. Wenn Autos, Maschinen oder Killer Drones autonom werden, ist es ratsam zu versuchen, selbst autonom zu denken.

NBIZ: Bei den Themen, die du beschreibst und bei den vielen angesprochenen Ebenen ist eine Stringenz nicht möglich. Das scheint problematisch, aber ich habe mich nicht daran gestört, weil die Lektüre dieses Buch mich sehr erleichtert hat, da wir auf das Desaster nicht mehr warten müssen, denn es ist schon da!

P.G.: Das freut mich (deine Erleichterung meine ich!)

NBIZ: Du hast im Untertitel den Begriff Denkweisen wieder hervorgeholt. Günther Anders, Ivan Illich und neuere Autoren wie Bruno Latour, Dipesh Charkrabarti, etc.. Von diesen ganzen Problematiken, die über einem schweben, woher auch immer sie kommen. Du sagst klar, das ist genau das, was überall verdrängt wird. Das normale Leben läuft einfach weiter, und keiner schränkt sich ein, im Gegenteil. Die ganzen neuen Partikularkämpfe, die überall neu aufflammen, sind Ausdruck der Angst, das zu verlieren, was man hat. Viele bekommen Depressionen, wenn Börsen oder Wachstum nicht ständig steigen. Dies könnte man als erfolgreiche Verdrängung bezeichnen, oder wie siehst Du das?

G.P.: Verdrängung ist tatsächlich das Stichwort. Ich habe ein Buch gegen die Verdrängung geschrieben, so kann man es maximal knapp zusammenfassen. Gegen das organisierte Vergessen vergangener Autoren und Theorien, gegen die Verneinung des Offensichtlichen, gegen die Flucht ins Irrationale, und vor allem gegen die zurzeit bevorzugte Strategie der Medien und der Politik, die Existenz von Problemen zuzugeben, um sie gleich zu verniedlichen und verharmlosen. Die Pflicht zum ständigen Optimismus resultiert aus der Angst vor Negativität. Aber irgendwann rächt sich die verdrängte Negativität. Besser ist, sich darauf gefasst zu machen.

Für die NBIZ führten Helmut Höge und Peter Oeltze von Lobenthal das Gespräch mit Guillaume Paoli.