Monats-Archiv: Februar 2014

Nervositäten

Opa_Otto_Falckner

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Nervositäten

Vorahnung und Überdruss in der Dämmerung zum 1. Weltkrieg – Ein Feature von Guillaume Paoli

Ein Donnerschlag. So wird die Kriegserklärung am 2. August 1914 immer wieder beschrieben. Doch dieser Donner kam nicht aus heiterem Himmel. Gerade in den vorausgegangenen Monaten war die Atmosphäre immer drückender geworden. Jeder wusste, dass ein Weltenbrand bevorstand, doch niemand konnte wirklich daran glauben. Der zittrige Zustand wurde durch die Unzufriedenheit an der Gegenwart geschürt: Während sich Lebensreformer gegen die überkommene Moral auflehnten, prangerten Kulturkritiker die moderne Dekadenz an. Die Diagnose der Nervosität war in aller Munde. Sämtliche Möglichkeiten der Epoche offenbarten sich noch einmal, bevor diese unterging.
Das Feature rekonstruiert durch literarische Textcollage und philosophische Interventionen den unmittelbar vor Kriegsausbruch kulminierenden kulturellen Konflikt.

Dramaturgische Beratung: Katrin Schumacher
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Ton: Martin Eichberg
Redaktion: Barbara Wahlster
Es sprechen: Frank Arnold, Günther Harder, Manuel Harder, Birgit Unterweger, Katrin Schumacher und Cordelia Wege

© Deutschlandradio Kultur 2014

Neues aus dem antikapitalistischen Kapitalismus

adplakatOccupy-Wall-Street-Plakat von Adbusters, jetzt von Walmart verkauft

Crowdfunding ist die gemütlichere Form des Bettelns. Anstatt an einer kalten Straßenecke zu stehen und Menschen direkt anzusprechen, sitze ich im warmen Nest vor dem Computer und versuche, über soziale Netzwerke die Öffentlichkeit für eine gute Sache zu gewinnen. Spenden ein paar Hunderttausende einen kleinen Obolus, dann ist die Finanzierung meines Konzepts gesichert. In Zeiten des Subventionsabbaus und der ausbleibenden Sponsoren werden wir immer häufiger darum gebeten, für die Realisierung eines Filmes, eines Musikalbums oder eines politischen Projekts einen bescheidenen Betrag zu überweisen. Selbstverständlich haben sich Internetplattformen auf Schwarmfinanzierung spezialisiert, am erfolgreichsten das US-amerikanische StartUp-Unternehmen Kickstarter. Das tun sie nicht aus reiner Nächstenliebe, Kickstarter erhebt eine Vermittlungsprovision in Höhe von 5% der erreichten Summe (dazu kassiert Amazon-Payments auch etwas). Bei der Gesamtmenge der Mikrotransaktionen ein gutes Geschäft. Aber auch für die Projektmacher kann Schwarmfinanzierung einen Geldsegen bedeuten. So kam der Autor des Comics „The order of the stick“ auf eine unverhoffte Million Dollar, ein Design-Projekt sogar auf zehn Millionen.

Derzeit wird durch Crowdfunding für ein originelles Alternativprojekt geworben: eine „gewaltlose Occupy-Wall-Street-Bürgerwehr“. Es gehe dabei um nichts weniger als „die existierenden Machtstrukturen zu zerlegen“ – diese Floskel reicht schon, um Misstrauen zu erwecken. Alle meinten, OWS sei schon lange tot, doch bleiben unter diesem Namen eine Webseite und ein Twitter-Konto aktiv, welche am Anfang der Besetzung von der „transgender Anarchistin“ Justine Tunney angemeldet worden waren. Nachdem sich Tunney mit anderen Promis der Bewegung wie David Graeber überwarf, hat sie die Marke OWS eigenhändig übernommen. Wir wollen jetzt nicht diskutieren, was zum Teufel eine gewaltlose Volksarmee soll. Wahrscheinlich läuft das Konzept auf eine Art Grundeinkommen für Black-Block-Chaoten hinaus. Viel interessanter ist die Tatsache, dass Justine Tunney seit Auflösung der Zuccotti-Park-Besetzung für Google als Software-Ingenieurin arbeitet. Nach eigener Aussage sei sie an Krebs erkrankt und müsse sich daher ausverkaufen – wogegen es nichts einzuwenden gäbe, würde sie nicht gleich dazu erklären: „Zwar operiert Google innerhalb des kapitalistischen Systems, aber sie tun viel Gutes für die ganze Welt. Weiterlesen…

Der User als neuer Habenichts

Everything belongs to you and me, so let’s take a ride and see what’s mine.

 

Es wird immer anders als gedacht. Bisher schienen Kapitalismus und Privatbesitz untrennbar. Nun wird der Privatbesitz vom Kapitalismus zunehmend abgeschafft. Ein Beispiel: Nachdem die Sauereien der Firma Amazon einer breiten Öffentlichkeit bewusst worden sind, haben nicht wenige Kunden ihr Konto gekündigt. Dann kam die böse Überraschung: Pfft, auf einmal war ihre ganze Kindle-Bibliothek gelöscht! Sie meinten, digitale Bücher so wie früher Papierbücher gekauft zu haben; falsch gedacht: Was sie erworben hatten, war „das Recht, Inhalte zu nutzen“, formal also eher mit einem Bibliothek-Konto vergleichbar, nur mit unbestimmter Ausleihfrist und teureren Gebühren. Gewiss kann man da sagen: selber schuld. Es gibt doch genug Möglichkeiten, aus dem Internet Texte, Musik und sonstige „Inhalte“ herunterzuladen, die man dann speichern, verlagern, vervielfältigen und tauschen kann. Und überhaupt ist ein Gang in nicht-digitalen Buch- oder Plattenläden auch nicht verkehrt. Aber wie lange wird das noch gehen? Das Kindle-Modell ist erfolgreich, es wird bereits von vielen anderen Konzernen und Verlagen praktiziert. Es könnte also durchaus sein, dass wir in wenigen Jahren nicht anders tun werden können, als kulturelle Produkte gegen Bezahlung zu nutzen, ohne diese jemals besitzen zu dürfen.

Häufig wird Besitz mir Eigentum verwechselt. Es sind aber zwei verschiedene Begriffe. Ein Mieter ist kein Eigentümer, wohl aber Besitzer seiner Wohnung. Er darf sie möblieren wie er will, niemand kann ihm vorschreiben, was er dort macht oder wen er einlädt. Selbst dem unangemeldeten Vermietern darf er den Zugang zu seinem Wohnsitz sperren. Wiederum ist ein Nutzer nicht unbedingt Besitzer. Zum Beispiel ist der Hotelgast eben nur Gast, der Wirt bleibt in Besitz des von ihm gemieteten Zimmers. Genau das wäre der neuartige Status des digitalen Users. Bei Amazon, Spotify und Konsorten ist er bloß zu Gast, mit entsprechend eingeschränkten Verfügungsrechten. Die Welt wird zum Hotel. Weiterlesen…