Auf nüchternen Magen einnehmen

Zur Zeit erhalte ich Texte zur Bewegung in Frankreich, in denen die Situation maßlos übertrieben wird. Auf einer englischsprachigen Website ist sogar von den „größten Protesten seit der französischen Revolution“ die Rede, was nur zeigt, dass die Autoren keine Ahnung von Geschichte haben. Da ich in manchen Texten zitiert werde, wird mir etwas mulmig. Ich glaube nicht, dass ich zu solchen Fehleinschätzungen beigetragen hätte. Außerdem wurde ich oft genug von Ereignissen gut wie böse überrascht, um irgendwelche Prognosen liefern zu wollen. Doch wollen wir versuchen, die momentane Lage etwas nüchtern anzuschauen.

 Erstens: Die Regierung hat den Terminkalender voll im Griff. Zur Zeit wird das Arbeitsgesetz vom Senat abgeändert, und da dieser von den Konservativen dominiert ist, wird ein viel schärferer Entwurf ausgearbeitet. Dann wird der Text vor die Nationalversammlung zurückkommen, und die Regierung wird die ursprüngliche Fassung als das kleinere Übel verkaufen, um die Zustimmung der renitenten linken Abgeordneten zu gewinnen. Gelingt das nicht, dann wird wieder einmal den Verfassungsartikel 49.3. herausgeholt, und das Gesetz wird per Dekret ein für allemal verabschiedet. In der Zwischenzeit sind Valls und Hollande entschlossen, die Protestwelle auszusitzen.

Zweitens: Alle Hoffnungen richten sich jetzt auf den 14. Juni, weil die Gewerkschaften erneut zu einem nationalen Aktionstag aufgerufen haben. Das zeigt, wie sehr die Gewerkschaften, allen voran die CGT, das Tempo bestimmen. Zum Vergleich: Der Mai 1968 war ein wilder Generalstreik; die Gewerkschaften rannten der Bewegung hinterher, um sie „erfolgreich“ zu beenden. Hierzulande herrscht ein falsches Bild der CGT als „radikale“ Gewerkschaft. Das ist sie nicht. Ein Beispiel: 2010 setzte Sarkozy das Gesetz zur Anhebung des Rentenalters durch. Wie? Er hatte einen Deal mit der CGT gemacht: Ihr schränkt die Proteste ein, dafür garantiere ich euch eine verbesserte Representativität. Letzten April war es im Nationalkongress der CGT die Basis, die nach unbefristeten Streiks rief. Jetzt hat CGT-Vorstand Martinez seine Position bereits abgemildert. Er fordert nicht mehr den totalen Rückruf des Gesetzes, sondern einzig dessen Artikel 2 (wonach Arbeitszeit und Löhne innerbetrieblich vereinbart werden und nicht mehr auf Branchenebene.) Er wäre jederzeit bereit, sagt er, mit Valls zu verhandeln, nur will Valls nicht. In diesem Konflikt kämpft die CGT in erster Linie um ihr Image. Nächstes Jahr werden Betriebsräte neu gewählt und es könnte sein, dass die „reformfreundliche“ CFDT zum ersten Mal die CGT überholt. Das hätte auch die Regierung gern, daher ihre harte Linie gegenüber der postkommunistischen Gewerkschaft.

Natürlich wird die Bewegung nicht allein vom Generalstab der CGT gesteuert. Dafür lohnt es sich, die anderen Komponenten genauer zu betrachten. In diesem aufrührerischen Frühling lassen sich drei Phasen erkennen. Im März wurde die Dynamik von der Jugend getragen, vor allem den Schülern. Im April übernahm diese Stellung die Nuit-Debout-Bewegung. Im Mai setzten die gewerkschaftlich organisierten Streiks ein.

 Da vom Anfang an die Jugendrevolte mit knallharter Repression begegnet wurde, nahm sie den Charakter einer offenen Konfrontation mit der Polizei. Dabei ist die Legende von „Black Blocks“ zurückzuweisen, die den Protest ausnutzen würden, um die Stadt blind zu verwüsten. In der Tat ist der Austausch zwischen, sagen wir mal, Insurrektionalisten und gewerkschaftlich organisierten Arbeitern immer präsent. In vielen Städten hat sich ein Kern von einigen Hunderten bzw. Tausenden herauskristallisiert, die fest entschlossen sind, weiterzukämpfen, ganz gleich, ob das Gesetz verabschiedet wird oder nicht. Man kann zuversichtlich behaupten, dass eine neue rebellische Generation aufgetreten ist. Die Erfahrungen dieser Monate werden nicht leicht vergehen. Beeindruckend ist es schon,  jedoch wird daraus noch keine Massenbewegung.

 Die Nuit-Debout waren wichtig, um in allen Städten einen permanenten Treffpunkt der Unzufriedenheiten zu bieten. Es kamen Menschen dazu, die ansonsten niemals demonstriert hätten. Dass aus den unzähligen Debattenbeiträgen keine politische Perspektive entstehen würde, war absehbar. Den Wahnwitzigen Vorschlag von Frédéric Lordon, einem der Initiatoren, man solle sich dran machen, eine neue Verfassung zu schreiben, wurde ganz schnell aufgegeben. Symptomatisch ist übrigens, dass diese Bewegung keinen Sprecher duldet. So groß ist der Argwohn vor Instrumentalisierung. Unwahrscheinlich ist daher, dass daraus eine Art Podemos à la française entstehen wird. Jetzt scheint die Dynamik der Nuit Debout merklich nachgelassen zu haben. Irgendwann wird Wiederholung ermüdend. Auch das miese Wetter mischt sich ein.

 Allerorts wurde zu einer „Konvergenz der Kämpfe“ aufgerufen, und in der Tat wird viel Solidarität mit Einzelkonflikten geübt, die hier und dort statt finden. Dafür wurde bald klar, dass der Generalstreik ein frommer Wunsch bleiben würde. Erstens spielt in vielen Betrieben die CFDT, die das Arbeitsgesetz unterstützt, eine maßgebliche Rolle; zweitens sind in vielen Sektoren die Beschäftigte nicht organisiert, und sie haben kaum Möglichkeit, die Arbeit niederzulegen. Bedenklicher noch:  Selbst in den Branchen, wo gestreikt wird, hält sich die Beeinträchtigung des Wirtschaftskreislaufs in Maßen. Bislang haben die Eisenbahnerstreiks den Zugverkehr wenig gestört. Die Stromproduktion wurde trotz AKW-Aktionen kaum verringert. Selbst die Benzinknappheit wird nach und nach überwunden. Bereits in zwei Raffinerien hat die Belegschaft für die Wiederaufnahme der Arbeit abgestimmt.

 Im Augenblick scheint also die Streikbewegung abzuebben. Zudem werden immer mehr Menschen von der zunehmenden Polizeigewalt eingeschüchtert. Gewiss bedarf es wenig, damit die Karten plötzlich neu aufgemischt werden. Die Nerven liegen blank, die Wut ist intakt. Jedoch kann diese Tage von einem Aufbruchstrend keine Rede sein, von einer revolutionären Situation nicht einmal zu sprechen.

Dennoch…

Um auf überdrehte Hoffnungen keine überdrehte Verzweiflung folgen zu lassen, sei diese Relativierung wiederum relativiert: Ja doch, die Vitalität der Bewegung bleibt in vielen Städten ungebrochen. Hier eine kleine Stichprobe:

LE HAVRE: Die normannische Hafenstadt steht an der Spitze des Arbeitskampfs. Dort streiken seit drei Wochen die Dockarbeiter, die Raffinerie und das Ölterminal. Mehrere Öltanker warten am Kai, entladen zu werden. Die Solidarität der lokalen CGT mit den übrigen Protestierenden ist absolut. Gemeinsam demonstrieren sie regelmäßig, ohne auf nationale Aktionstage zu warten. Am 2. Juni waren sie 30000! Am Donnerstag geht’s wieder los. Für den 13. rufen die „Parents Debout“ zu einer Versammlung gegen Sparmaßnahmen in der Schulhortbetreuung. Heute Abend ruft „Hôpital Debout“ zu einer Kundgebung im größten Krankenhaus der Stadt. Infolge des neuen Gesetzes sollen 20000 Stellen im Gesundheitssektor abgebaut werden. Das Personal fordert eine „sanitäre Demokratie“ und behauptet: „Ein lustiges Chaos ist möglich!“

NANTES: Seit Jahren wird in der Region gegen ein Flughafenbauprojekt gekämpft, das Gelände als „Zone À Défendre“ (zu verteidigende Zone) besetzt. Mit einer bevorstehenden Volksbefragung spitzt sich jetzt der Konflikt zu. Dort wurden auch die neuen Repressionstechniken der Polizei geprobt, die seit März im ganzen Land angewendet werden. In dieser Stadt waren die Konfrontationen besonders heftig. Dennoch demonstrierten am letzten Donnerstag wieder 6000 zusammen mit Gewerkschaftlern. In den kommenden Tagen organisiert die dortige Nuit Debout u.a. einen Workshop zur Medienkritik und eine Hilfsinitiative für Flüchtlinge.

RENNES: Auch die tapferen Bretonen sind brutaler Polizeigewalt ausgesetzt. Regelmäßig wird ein „Haus des Volkes“ besetzt, geräumt und wiederbesetzt. Letzte Woche fuhren fünf Polizeiwagen mit Vollgas gegen friedliche Demonstranten. Die anwesenden Journalisten wurden mit Gewalt gehindert, zu berichten. Gestern fand ein „interprofessionelles Plenum“ statt, um über die Intensivierung der Streiks und die Störung der Fussball-EM zu diskutieren. Nächste Demo am Donnerstag.

TOULOUSE: Letzte Woche wurde eine Filiale der Restaurantkette „Hippopotamus“ in Solidarität mit dem streikenden Personal besetzt, bis sie von der Polizei geräumt wurde. Gestern Abend debattierte die Nuit Debout auf dem Place du Capitole über die „Perspektiven der Bewegung“. Am Donnerstag ist eine weitere Demonstration geplant, zudem soll der Hafen besetzt werden und in einem Krankenhaus eine „festliche Aktion“ der „Hôpital Debout“ statt finden. In Toulouse werden am 13. und 17. Juni zwei Spiele der Fussball EM ausgetragen. Zu diesem Anlass haben lokale Gewerkschaftssektionen „Aktionen“ angekündigt, an denen sich auch Gewerkschaften aus den spielenden Ländern Spanien und Italien beteiligen sollen.

PARIS: Ein Arbeitskampf verursacht nicht unbedingt Belästigungen. Für 800000 Bewohner der Pariser Region wurde letzte Woche die Stromrechnung auf Nachttarif blockiert, eine „Robin-Hood-Aktion“ der Angestellten des Stromkonzerns EDF. Heute wird im CDG-Flughafen demonstriert. Gestern wurden die Gare Montparnasse und Gare du Nord von streikenden Eisenbahnern besetzt. Außerdem wurde Wirtschaftsminister Macron mit Eiern beworfen, als er unverschämt an einer Feier zum 80. Jahrestag der „Front populaire“ teilnahm (1936 wurden von der Volksfront-Regierung unter Druck einer massiven Streikwelle jene sozialen Gesetze verabschiedet, die jetzt Macron und Sozi-Kollegen rückgängig machen). Morgen will die Parti Socialiste eine Kundgebung zur Verteidigung des Arbeitsgesetzes organisieren. Unter dem Motto „Arschgeigen trauen sich alles, gerade daran erkennt man sie“ soll diese Provokation gestört werden. Am kommenden Wochenende trifft sich eine „Nationale Koordination der Kämpfe“. Delegierte aus allen Städten wollen beraten, wie sie sich von dem gewerkschaftlich diktierten Terminkalender unabhängig machen und „die Konflikte intensivieren“ können.

Wie man sieht, sind etliche Brandherde noch aktiv. Ungewiss ist nur, ob sie rechtzeitig zu einem Großfeuer aufeinandertreffen können.

(aktualisiert am 6. Juni 2016)

 

 

 

 

 

 

 

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