Seit Wochen ruft Marine Le Pen nach einem Verbot aller Demonstrationen in Frankreich. Jetzt erwägt die sozialdemokratische Regierung, genau das zu tun. „Kein generelles Verbot, weil wir das nicht dürfen“, seufzt Valls (diese verdammte Menschenrechtserklärung!), „aber von Fall zu Fall werden wir unsere Verantwortung übernehmen.“ Und Hollande: „Wenn, wie jetzt der Fall ist, die Sicherheit von Personen und Gütern nicht mehr garantiert werden kann, werden wir im Einzelfall Demonstrationen nicht genehmigen“.
Das ist ganz logisch: Da die Franzosen sich nicht zähmen lassen (das war ein lustiger Versprecher von Valls vor dem Parlament: „Die Franzosen müssen doch gezähmt werden!“, er hatte „approvisionés“, versorgt, mit „apprivoisés“, gezähmt, verwechselt), bleibt nur noch, den Unzufriedenen die Möglichkeit zu nehmen, sich öffentlich zu äußern. Nur musste eine passende Story dazu erzählt werden. Zu diesem Zweck wird von Medien und Politik eine großangelegte Manipulation um den Zwischenfall am Hôpital Necker eifrig konstruiert.
Die Geschichte wurde auch von deutschen Medien erwähnt, und es lohnt sich, sie genau zu untersuchen. Am 14.6. wird in Paris der gigantische Demonstrationszug von einer Hundertschaft der CRS vor dem Necker-Kinderkrankenhaus angehalten. Es sind genau solche Sperren, die wiederholt zu Zusammenstößen führen: Die Menge will weiter, einige fangen an, Steine auf die Polizei zu werfen, die dann Tränengas, Knüppel und Granaten gegen alle einsetzt. An der Kreuzung ist die Konfrontation besonders heftig. Blut fließt, es gibt viele Verletzte. Hinterher werden einige vom Krankenhauspersonal behandelt. Übrigens: auf den Bildern sind die Verletzte niemals vermummt oder schwarz gekleidet, darunter sind auch viele Frauen. Selbst „Street medics“ werden zusammengeknüppelt. In den Berichten wird dieser Zusammenhang nicht erläutert. Erzählt wird nur u.a. im Spiegel Online folgendes: „Am späteren Nachmittag kommt es dann zu Ausschreitungen: Demonstranten werfen Fensterscheiben eines Krankenhauses ein.“
Demonstranten greifen ein Hospital an… In den folgenden Stunden wird die Geschichte zum Hauptthema der Politik. Der Innenminister spricht von „Horden gewalttätiger Demonstranten“, die „die Fenster jenes Krankenhauses zerstörten, wo das Kind der gestern (von einem islamistischen Attentätern) ermordeten Polizisten liegt“. Die Sozialministerin empört sich gegen den „unerträglichen Angriff, im OP-Saal warteten gerade Kinder, operiert zu werden“. Valls geht noch ein Stück weiter: „Chaoten haben ein Krankenhaus verwüstet“. Gleich stellt sich man vor, das Hospital liegt nun in Schutt und Asche. Allseits wächst die moralische Empörung gegen die Attacke auf die Figur des unschuldigen Opfers par excellence, kranke Kinder.
Was genau passiert ist, zeigt eine Videoaufnahme. Da sieht man, wie abseits von der Menge ein einziger Mann ein Dutzend Glasscheiben am Hospitalgebäude (wohlgemerkt keine Fenster, sie decken eine Mauer zum Wärmeschutz) mit einem Vorschlaghammer einschlägt. Auch hört man einen Demonstranten, der ihn zuruft: „Hey Mann, das ist ein Kinderkrankenhaus!“ Ein zweiter Mann tritt auch mit den Füßen gegen die Glasscheibe. Von einer “Horde” keine Spur. Spekuliert wird natürlich, ob beide Männer Agents Provocateurs waren. Viele vermummte Zivilpolizisten in den Demos lassen sich kaum von Teilnehmern unterscheiden, außerdem lässt sich ein Vorschlaghammer nicht leicht durch die Taschendurchsuchungen einschleusen. Aber unter einer Million Menschen konnte sich auch ein Durchgeknallter befinden. Wie dem auch sei, so idiotisch es war, diese Glasscheiben einzuschlagen , unwahrscheinlich ist, dass die Kinder davon erfuhren. Viel eher werden sie vom Lärm der Polizeigranaten einen Schock bekommen haben.
Für die Regierung ist die Geschichte ein gefundenes Fressen. Seit Wochen versuchen sie, den Protest mit Bildern der Gewalt zu delegitimieren, doch belegt die jüngste Umfrage, dass dieser nach wie vor von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. „Jetzt kann die Meinung kippen“ jubelt eine PS-Abgeordnete der Zeitung Libération gegenüber. Und ein anderer:“Die Randalierer haben Valls einen Königsweg eröffnet, um die CGT und die ganze soziale Bewegung zu dekredibilisieren.“ Ob der Propagandazug gelingt, bleibt abzuwarten. Gegen die politische Instrumentalisierung des Zwischenfalls hat das Hospitalpersonal öffentlich Stellung genommen. Auch der Vater eines kleinen Patienten hat einen zornigen Text veröffentlicht. Die Politiker, schreibt er, die die armen kranken Kinder so sehr bemitleiden, sollten sich lieber um die Arbeitsverhältnisse im Necker kümmern. Mangels Pflegepersonals dort müssen manche eine 70-Stunden-Woche arbeiten. Weitere 22000 Stellen im Gesundheitssektor sollen nächstes Jahr gestrichen werden. Was sind dagegen ein paar kaputte Glasscheiben?
Immerhin haben die Behörden jetzt einen Vorwand, um die Bürgerrechte weiter einzuschränken. Unisono erklärten Sarkozy und Valls, für die Schaden müsse die CGT haften. Sie sei unfähig, die Ordnung unter ihren Truppen aufrecht zu erhalten, daher wird ihr aufdringlich empfohlen, auf weitere Demonstrationen zu verzichten. Und wenn sie dies nicht tut, dann werden sie verboten. Dazu sagte ein Gewerkschafter: Dann sollte auch die Fussball-EM verboten werden, dort randalieren doch immer manche Fans. Dieser verzweifelter Versuch des Staates, wieder Herr der Situation zu werden, heizt die Gemüter noch weiter. Heute wurde ein Aufruf zu einer Demonstration für das Recht auf Demonstration lanciert.