Zweifellos erlebte das soeben zu Ende gehende Jahr eine Entfachung sozialer Unruhen in bisher ungekannter Gleichzeitigkeit. Allein im Herbst fanden in über zwanzig Ländern Massenbewegungen und Aufstände statt, in manchen Fällen wurden sie gnadenlos in Blut ertränkt. Reicht das, um von einer globalen Revolte sprechen zu können? Bei einer solch kühnen Behauptung ist Vorsicht geboten. Sie lässt ja einen einheitlichen Willen vermuten, der offensichtlich nicht vorhanden ist.
Simultanität ist noch kein Beweis für Gemeinsamkeit. Die Schnittmenge zwischen Protestmotiven etwa im Iran und in Haiti dürfte ziemlich gering sein. Insbesondere Katalonien und Hongkong, wo die nationale Frage überwiegt, ragen aus der Gemengelage heraus. Regionale Zusammenhänge sind da als bestimmende Faktoren plausibler. Wenn die Bevölkerung Algeriens, des Libanon und des Irak zeitgleich aufbegehrt, wird vermutlich der Arabische Frühling in Ländern fortgesetzt, die 2011 aus verschiedenen Gründen nicht rebelliert hatten. In Lateinamerika wiederum fand offenbar ein Ansteckungsprozess zwischen Ecuador, Bolivien, Chile und Kolumbien statt.
Die Gemeinsamkeit der Volksaufstände
Und doch ist die Gleichzeitigkeit all dieser Proteste nicht ganz zufällig. Wenn in Quito die Strasse aufbegehrt, wird das zum Ansporn für die Beiruter Menge. Pariser Demonstranten fühlen sich von Wütenden in Santiago bestätigt. Als Affinitätsmedium dienen die sozialen Netzwerke. Bilder von Massenumzügen, Tränengaswolken und versehrten Gesichtern ähneln sich überall und verbreiten sich viral. Zudem offeriert die globale Kulturindustrie gemeinsame Erkennungszeichen, die Joker-Masken etwa, oder Bruce Lees Kampfanweisung «Be water». Wenn Demonstranten in Beirut wie in Bogotá «Bella ciao» anstimmen, dann nicht aufgrund des antifaschistischen Ursprungs des Liedes, sondern weil es durch die Netflix-Serie «Haus des Geldes» weltberühmt wurde.
Auch eigens erfundene Symbole werden an ganz anderen Orten übernommen. Die Gelbweste, Kennzeichen der französischen Bewegung, wurde binnen Wochen von Protestierenden in zwei Dutzend Ländern getragen. Da ist mehr als bloss Mimikry im Spiel. Mit der grellen Leuchtkraft des Fluoreszierenden kommen hier die Unsichtbaren ans Licht und erkennen sich als kollektive Kraft – das Sinnbild ist universal anwendbar. Zudem werden über Ländergrenzen und spezifische Kontexte hinweg technische Erfahrungen ausgetauscht. Gegen Hongkonger Proteste werden in Frankreich hergestellte Wasserwerfer eingesetzt, dafür lernen auf Youtube-Videos französische Demonstrantinnen von Hongkongern, wie man Reizgaspatronen unschädlich macht.
So kommt unversehens eine Art virtuelle Internationale zustande. Freilich keine tatsächliche. Die gelbe Weste ist nicht die rote Fahne, sie deutet auf keine Ideologie, auf kein Programm hin. Doch gerade diese Abwesenheit verbindet all die genannten Unruheherde. Sie eint zumindest, was sie nicht sind.
Rebellion gegen die Ungleichheit
Selbst wenn nicht alle Merkmale auf jeden Einzelprotest zutreffen, lässt sich doch ein Grundmuster umreissen. In der Regel haben wir es mit spontanen Ausbrüchen zu tun, die keiner organisierten Opposition entspringen. Sie werden nicht einmal von charismatischen Leadern angeführt. Es erhebt sich eine unbestimmte Menge, die weder mit soziologischen Kategorien (Unterschicht oder Mittelstand) noch mit politischen (links oder rechts) eindeutig fassbar ist.
Auch ethnische oder (im Fall Libanon) konfessionelle Zugehörigkeiten werden beiseitegeschoben. Der Auslöser ist scheinbar geringfügig, eine weitere Preiserhöhung, eine neue Steuer, der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass der erduldeten Missstände zum Überlaufen bringt. Die Hauptsache ist, dass alle gleichermassen davon betroffen sind; so können sie sich kollektiv widersetzen. Ob es ihnen bewusst ist oder nicht, rebellieren sie nicht nur gegen die eigene Regierung, sondern gegen globale Institutionen, die solche Teuerungen erzwingen, sei es durch eine Kreditbedingung des IWF, übernationale Abkommen oder wie im Iran durch Wirtschaftssanktionen. So oder so müssen die Unterprivilegierten die Zeche zahlen.
Ganz schnell richtet sich dann der Volkszorn explizit auf das ganze «System» und insbesondere auf die nationalen «Eliten», die sich von Entbehrungen ausnehmen und ihr Vermögen legal wie illegal vermehren. Im Grunde haben wir es mit einer globalen Protestwelle gegen soziale Ungleichheit zu tun. Wen wunderts? Seit Jahren wird die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich empirisch belegt. Erstaunlich ist höchstens, dass die Oberschicht von den logischen Folgen kalt erwischt wird.
Gegen das Empfinden krasser sozialer Ungleichheit helfen auch die üblichen Relativierungen nicht, wonach Bewohnerinnen einer bestimmten Nation doch im Vergleich zu anderen in relativem Wohlstand lebten. Psychologisch kommt es auf die Binnenverteilung des Reichtums an, weil die Menschen sich mit den Mitgliedern der eigenen Gesellschaft vergleichen. Chile mag ausgezeichnete Wirtschaftsdaten vorweisen, es gehört dennoch zu den unegalitärsten Ländern der Welt, mit 1 Prozent der Bevölkerung im Besitz von 35 Prozent des Reichtums. Frappierend ist, wie sich die Beschwerden überall ähneln. Nicht das ungedeckte Bankkonto an sich ist das Problem, sondern vielmehr der ungleiche Zugang zu existenziellen Ressourcen wie Gesundheit, Bildung, Mobilität, Alterssicherung.
Das sind nicht nur ökonomische Parameter. Die Empörung dagegen hat eine starke moralische Komponente. Die verachteten Loser der derzeitigen Verhältnisse schreien nach Gerechtigkeit und einem würdigen Leben. Gegen die Gewinner lässt sich jedoch nicht so leicht kämpfen. Potentatinnen in armutsgeprägten Nationen ebenso wie CEOs in wohlhabenden Ländern verstehen sich darauf, unerreichbar zu sein. Zur Rechenschaft kann allein die Politik gezogen werden.
Politik für Oligarchen
Hier liegt auch eine Gemeinsamkeit aller Volksausbrüche seit Beginn des Jahrhunderts. Gerufen wird jeweils nicht nur nach Absetzung des amtierenden Staatsoberhaupts, sondern gleich der politischen Klasse in toto. Es dominiert das Gefühl, von niemandem vertreten zu sein. Die Politik wird nur noch als Interessenvertretung der Oligarchie wahrgenommen, bar jeglichen Bezugs zum Gemeinwohl. Dafür sind die Biografien von Emmanuel Macron und Sebastián Piñera exemplarisch. Immer mehr verfestigt sich der Eindruck, dass es Millionären obliegt, über die Geschicke ihrer Landsleute zu entscheiden. In den USA profiliert sich Bloomberg als bestmöglicher Herausforderer von Trump mit dem Argument, dass er der Reichere ist. Mit anderen Worten: Die Politik wird nicht für ihre überzogenen Ansprüche abgelehnt, sondern umgekehrt: weil sie ihr Vorrecht auf Gestaltung (und damit in letzter Konsequenz sich selbst) aufgibt. Daher die scheinbare Paradoxie, Forderungen an eine Regierung zu stellen, deren Entlassung man sich wünscht.
Die Welt wird immer unregierbarer – so zumindest eine zurzeit oft geäusserte Klage. Gemeint sind nicht nur die disruptiven Ausbrüche des Volkszorns; auch der chronische Unmut der Wähler in demokratischen Staaten trägt zur pessimistischen Diagnose bei. Immer häufiger entscheiden sie sich für rechte wie linke Protestparteien, mit dem Effekt, dass der liberale Konsens verdrängt und lahmgelegt wird.
Bemerkenswert an dieser Wehklage ist, dass es sie schon einmal gab. Der Präzedenzfall ist wichtig, um die gegenwärtige Sequenz in historischer Perspektive zu begreifen.
In seiner kürzlich erschienenen Untersuchung «Die unregierbare Gesellschaft» zeigt der französische Philosoph Grégoire Chamayou, wie eben dieser Topos den Auftakt der neoliberalen Epoche einleitete. In den 1970er-Jahren begannen nämlich die Entscheidungsträger an der Kompatibilität von Kapitalismus und Demokratie zu zweifeln. Zum einen wurde das autoritäre Fabrikregime von der Arbeiterschaft immer weniger toleriert, zum anderen waren neue Akteure aufgetreten, Konsumentenverbände, Umweltschützer, Frauen, marginalisierte Gruppen, die nach mehr gesellschaftlicher Teilhabe trachteten. Allseits wurde diese demokratische Ausweitung als «Krise der Regierbarkeit» gedeutet. Aus wahltaktischen Gründen sahen sich Volksvertreter genötigt, ihr Tätigkeitsfeld ständig auszudehnen, was für Verfechter der freien Marktwirtschaft einem schleichenden Kommunismus gleichkam.
Ein Blick zurück auf Chile
Bekanntlich begann die Gegenoffensive mit Pinochets Staatsstreich, von den Chicago Boys tatkräftig unterstützt, und es verwundert nicht, dass heute die Revolte besonders in Chile virulent ist. Wie Friedrich August Hayek 1978 unverblümt schrieb: Die persönliche Freiheit sei manchmal unter einem autoritären Regime besser geschützt als unter einer demokratischen Regierung. Notfalls also mit Mord und Folter? Die Botschaft war auch eine Warnung an alle künftigen Linksregierungen der Welt.
Dennoch ist selbst für radikalste Neoliberale die Diktatur kein Zweck, sondern allenfalls ein provisorisches Notmittel. Das eigentliche Ziel ist, ein Umfeld zu schaffen, das die Wirtschaftssphäre vor den Unwägbarkeiten des allgemeinen Wahlrechts schützt. Entgegen einer häufigen Meinung ist Neoliberalismus keine blosse Ideologie, er ist eine Technologie der Macht. Institutionelle Rahmenbedingungen werden geschaffen und gesichert, damit der Politik ganz gleich welcher Färbung systemisch untersagt wird, zum Nachteil des Kapitals Umverteilung zu betreiben.
Seit vierzig Jahren lebt die westliche Welt unter einem Regime der eingeschränkten Demokratie. Mit dem Stuhlwechselspiel zwischen Mitte-links- und Mitte-rechts-Parteien an den Regierungsspitzen wird ein und dasselbe Programm gegen die Interessen und die Meinung der Bevölkerungsmehrheit eisern durchgesetzt. Das funktionierte eine Zeit lang durch die Propagandaarbeit von Stiftungen, Thinktanks und Medien, die die «Reformen» als langfristig gewinnbringend verkauften, vor allem aber auch durch das eingehämmerte Mantra, eine Alternative gebe es sowieso nicht.
Im Zeitalter des «autoritären Liberalismus»
Nun erleben wir Revolten gegen die organisierte Alternativlosigkeit. Nicht die Menschen haben sich radikalisiert, sondern die Zustände. Die kapitalistische Welt ähnelt immer offensichtlicher dem Bild, das ihre radikalen Kritikerinnen schon immer von ihr gemalt hatten. Und es scheint, als seien wir im Zeitalter eines «autoritären Liberalismus» angekommen.
Dieser vermeintlich widersprüchliche Begriff wurde laut Chamayou 1932 von dem sozialdemokratischen Juristen Hermann Heller geprägt, um ein paradoxes Gebilde zu benennen: einen starken Staat im Dienst einer freien Wirtschaft. Stark ist der Staat nicht, indem er alle Gesellschaftsbereiche totalitär kontrolliert, sondern umgekehrt, indem er die Gesellschaft daran hindert, sich in den unregulierten Entfaltungsprozess des Kapitals einzumischen. Und das tut er gegebenenfalls mit hemmungsloser Gewalt. Die Ereignisse in Frankreich haben gezeigt, wie weit die Repression in einer modernen (Post-)Demokratie gehen kann. Mit der Aufstandsbekämpfung kommt der eigene Autoritarismus einer bisher liberalen Regierung zum Vorschein und untergräbt so die eigene demokratische Legitimität.
Bislang ist es nirgendwo gelungen, aus den sporadischen Konfrontationen eine dauerhafte Opposition aufzubauen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Zum einen haben tradierte linke Strategien ihr Unvermögen genügend unter Beweis gestellt, eine praktikable und zugleich wünschenswerte Alternative anzubieten. Zum anderen, und das ist die wesentliche Hürde, erfolgt jeder Einzelprotest zwangsläufig im Rahmen der Nation, wobei er sich doch gegen eine globale Ordnung richtet. Gesetzt den Fall, es würde ein Volksaufstand in einem bestimmten Land siegen, bliebe nur die Exit-Option übrig, mit unabsehbaren und nicht unbedingt rosigen Folgen für die Bevölkerung. Voraussichtlich wird sich also das Muster des gerade zu Ende gehenden Jahres noch einige Zeit fortsetzen: autoritärer Liberalismus, durch gelegentliche Ausbrüche des Zorns zu temporären Zugeständnissen gebracht. Bis der Status quo nicht mehr haltbar ist.
Zunächst erschienen in: https://www.republik.ch/2019/12/30/das-jahr-der-proteste