Anatomie einer Desinformationskampagne

Immer wieder wird auf meine Timeline das Interview gepostet, das Jan Feddersen mit Daniel Cohn-Bendit über die Gelbwesten führte (taz vom 6.12.18). Den Leuten scheint insbesondere ein Satz zu gefallen: „Die Linke macht mal wieder den Fehler, den sie immer macht: Revolten, die ihr Herz erwärmen, schon für emanzipativ zu halten“. Über die Behauptung lässt sich streiten. Unleugbar ist allerdings, dass Cohn-Bendit sich vor keiner Faktenverdrehung scheut, um die Gelbwesten als rechtsextrem zu diffamieren. Das wäre nicht sonderlich erwähnenswert, wenn nicht beispielhaft für eine laufende Desinformationskampagne, deren Mechanismen in diesem speziellen Fall sich leicht rekonstruieren lassen.  Dafür muss ich ein wenig ins Detail gehen. Aber es lohnt sich.

Cohn-Bendit sagt:

„Der überwiegende Teil der Gelbwesten-Bewegung stammt aus dem Front National, aus dem Reservoir der ganz Rechten.“ Eine kühne Behauptung; Zum Zeitpunkt des Gesprächs sind bereits etliche Studien, Kartografien und Umfragen veröffentlicht worden, die auf das Gegenteil schließen. Aber Cohn-Bendit weiß: „Wie Sprecher es ausdrücken“, hätten die Gelbwesten „am liebsten wieder einen General an der Spitze“ des Staates. Woher hat er die Information?

Tatsächlich sagt am 3.12 ein als „Sprecher der Bewegung“ angekündigter Gast beim Radiosender Europe 1: “Ich persönlich könnte mir General de Villers als Regierungschef gut vorstellen. Wir brauchen einen starken Mann“.

Dieser Radiogast heißt Christophe Chalençon, ein Schmied aus dem Vaucluse. In diesem Departement hatten sich Anfang November 13000 Menschen über Facebook zum Event „Landesweite Bewegung gegen Spritpreiserhöhung“ angemeldet. Ganz schnell wird Chalençon, so die Zeitung La Provence, zum „selbsternannten und sehr medienaffinen Vertreter des Vaucluse.“  Doch berichtet dieselbe Zeitung am 14.11., dass der Mann nicht unumstritten ist. Mitglieder des Kollektivs beklagen, dass er „das Wort monopolisiert um sehr engagierte Reden zu halten, die manche Teilnehmer verschrecken.“ Noch bevor die ersten Aktionen beginnen, wendet sich die Gruppe offiziell von Chalençon ab, weil er „in rechten Kreisen verkehrt“ und „jede Gelegenheit nutzt, um sektiererische Ansichten zu verbreiten“. Sie betonen: „Er behauptet, in unserem Namen zu sprechen, aber das stimmt nicht.“

Mit ihrem ersten Aktionstag werden die Gelbwesten zum großen Ereignis, und die Medien suchen frenetisch nach Ansprechpartner. Obwohl in seiner Region diskreditiert, in Paris ist Chalençon ein sehr gefragter Gast. Allein im Sender BFMTV spricht er 31 Mal in 4 Tagen! Dass er für homophobe und islamfeindliche Auslassungen bekannt ist, scheint die Medienmacher nicht zu stören. Im Gegenteil, es hilft zur Verleumdung des Protests. Das ist kein Einzelfall. In den ersten Tagen haben in mehreren Regionen rechte Rattenfänger die politische Unerfahrenheit der Gruppen ausgenutzt, um als Sprecher zu fungieren. Da ist zum Beispiel ein Benjamin Cauchy aus Toulouse.  Nachdem seine Kontakte zu Ultrarechten nachgewiesen worden sind, wird er von den Gilets Jaunes der Haute-Garonne desavouiert. Doch im Fernsehen ist er nach wie vor omnipräsent.

Zurück zu Cohn-Bendit. Gefragt, woraus er entnimmt, dass die Anführer der Gelbwesten rechtsradikalen Haltungen nahestehen, antwortet er: „Einige, die jetzt das Wort im Fernsehen führen, haben ihre Websites voller Texte gegen Muslime, gegen Ausländer, gegen alles Fremde.“ Das stimmt schon, nur zu „Anführern“ sind diese Leute nicht von den Gelbwesten gemacht worden, sondern von den Medien. Und von der Regierung.

Am Tag nach dem Krawall am Triumphbogen geben Chalençon, Cauchy und acht andere bekannt, dass sie aufgrund der „Radikalisierung“ des Protests zu sofortigen Verhandlungen mit der Regierung bereit sind. So werden Rechtsextreme plötzlich als „moderate Gelbwesten“ dargestellt. Angeblich eine gefährliche Haltung: Sie erzählen überall, sie hätten deswegen anonyme Anrufe und gar Morddrohungen erhalten.

Die übrigen Gelbwesten sind sich darüber einig: Kein Gespräch mit der Regierung findet statt, ehe diese auf ihre Forderungen konkret eingeht. Verständlicherweise fühlen sie sich von der Initiative der rechten Opportunisten hintergangen. Und versuchen, sie davon abzuhalten, wenn auch mit dubiosen Mitteln. Hingegen ist der Premierminister Philippe sehr erleichtert: Endlich wollen Protestierende mit ihm reden. Da schaut man nicht zu sehr, mit wem man eigentlich zu tun hat. Am 7.12., dem Vorabend des nächsten Aktionstages, werden die „Vertreter“, sie nennen sich auch „freie Gelbwesten“, im Hotel Matignon empfangen.

Wie erzählt Cohn-Bendit die Geschichte? „Diese Bewegung hat mehr als nur leicht autoritäre Züge“, sagt er. „Sie lehnt das Gespräch ab, sie will keinen Kompromiss finden. Zum Beispiel hat sie diejenigen, die einen Verhandlungskompromiss finden wollten, mit dem Tod bedroht.“ Er verschweigt also, dass die Rechtsextremen, deren Präsenz in der Bewegung er anprangert, genau dieselben sind, die über die Köpfe der Anderen verhandeln wollen und deswegen angedroht worden sind. Und das verschweigt er willentlich; er wird wohl die Zeitung Libération gelesen haben, woraus ich all diese Informationen entnommen habe. „Autoritär“ nennt Cohn-Bendit die Kompromisslosigkeit der Gelbwesten, und nicht die Vereinnahmung der Bewegung durch selbsternannte Vertreter.

Kleine Bemerkung en passant: Im Mai 1968 hatte Cohn-Bendit seine Karriere damit begonnen, dass er sich als Sprecher einer Bewegung selbstdarstellte, die keinen Sprecher haben wollte. Der Mann konnte und kann keine Fernsehkamera sehen, ohne den Mund aufzureißen, für die Medien ein gefundenes Fressen. Aber die Zeiten haben sich geändert. In der taz wird Cohn-Bendit als „proeuropäischer Aktivist“ vorgestellt. Unerwähnt ist seine Beratertätigkeit für Emmanuel Macron, obwohl diese seine Aussagen unter einem etwas anderen Licht stellt.

Fazit: Die rechten Tendenzen, die innerhalb der Bewegung der Gelbwesten stets auf Ablehnung gestoßen sind, wurden von Medien und Regierung systematisch gefördert. Obwohl diese Verzerrung immer offensichtlicher wird, hierzulande prägt sie weiterhin die öffentliche Meinung. Um Cohn-Bendit zu paraphrasieren: Liberale machen mal wieder den Fehler, den sie immer machen: Informationen, die ihre Vorurteile bestätigen, schon für wahr zu halten.