Apropos Nizza

Über Mohamed Lahouaiej Bouhlel, den Massenmörder von Nizza, ist wenig bekannt. Er scheint ein ganz unscheinbares Arschloch gewesen zu sein. Der 31jährige Tunesier war verheiratet, hatte drei Kinder, prügelte oft seine Frau, von der er sich vor zwei Jahren trennte. Seitdem wohnte er allein. Seine Nachbarn erzählen Journalisten, was Nachbarn halt zu erzählen haben. Er war „immer gepflegt“, „ein Alleingänger“, „hat nie gegrüßt“. Der Vater sagt, der Sohn sei psychisch Krank gewesen, habe unter Depression gelitten und Psychopharmaka genommen. Oft habe er alles um sich herum demoliert.

Lahouaiej Bouhlel war Kurierfahrer. Er lieferte Pakete auf Europaletten in der Umgebung von Nizza. Ein Kollege von ihm erzählt: „In diesem Job bist du einsam, da grübelst du viel. Entweder ordnest du deine Gedanken, oder lässt sie verrücken. Je nach Persönlichkeit kann man leicht paranoid werden“. Probleme mit der Justiz bekam er, als er sich während der Arbeit mit einem Autofahrer prügelte. Vor zwei Monaten verlor er seinen Job, weil er am Steuer eingeschlafen war und zwei Autos gerammt hatte.

Irgendwie erinnert der Fall an Andreas Lubitz, den Germanwings-Suizidpiloten. Zwei vollkommen gescheiterte Existenzen, die ihr Arbeitswerkzeug in eine Massenvernichtungswaffe verwandeln. Wie Lubitz soll auch Lahouaiej Bouhlel einmal während eines Kneipenstreits gerufen haben: „Eines Tages werdet ihr von mir hören!“ Aber Moment mal. Lubitz war doch kein Terrorist. Er war ja Biodeutscher. Kein Politiker und kein Journalist hat seine Tat als Anschlag gegen unsere Werte, die Demokratie und die westliche Welt gedeutet. Hingegen war Lahouaiej Bouhlel ein Araber, das macht sofort einen Unterschied. Unmittelbar nach dem Massaker wusste schon Premierminister Valls: „Ohne Zweifel war er ein Terrorist mit Verbindungen zum radikalen Islamismus.“ Daraufhin erklärten alle Medien der Welt, dass Tag und Art des Attentats vom „Islamischen Staat“ gezielt ausgewählt worden seien. Nachdem ihm wieder einmal so viel Werbung gemacht wurde, bekannte sich schließlich der IS zum Anschlag.

Nur passt die Erklärung überhaupt nicht zu dem, was man über Lahouaiej Bouhlel weiß. Er trank Alkohol und zwar nicht wenig. Aß Schweinefleisch. Betete nicht. Wurde nie in einer Moschee gesichtet. Sein Anwalt, der noch im letzten März mit ihm sprach, bestätigt, dass er keinerlei Anzeichen von Islamismus zeigte. Selbst Geheimdienstler sagen, dass sein Profil sich mit dem üblichen Terrorraster nicht deckt. Die französischen Behörden haben ein Problem. Einerseits müssen sie erklären, wieso das Blutbad trotz extremer Antiterrormaßnahmen nicht vermieden werden konnte, andererseits wollen sie keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass es sich doch um islamistisch motivierten Terrorismus handelt. Der Innenminister fand die passende Erklärung: Der Mann soll sich „ganz schnell radikalisiert“ haben. Vielleicht in einem 2tägigen Crashkurs.

Höchstwahrscheinlich wird Lahouaiej Bouhlel den Nationalfeiertag nicht zufällig ausgewählt haben. Womöglich wollte der Tunesier, dessen Aufenthaltsgenehmigung er seiner kaputt gegangenen Ehe verdankte, Frankreich bestrafen. Vermutlich hat auch die Riesenresonanz der Pariser Anschläge seinen mörderischen Größenwahn angefeuert. Vielleicht wird die Untersuchung schließlich nachweisen, dass er doch Kontakte zu Dschihadisten hatte. Doch nach dem jetzigen Stand lässt nichts auf einen islamistischen Terroranschlag deuten. Wir leben aber in einer Zeit, da die Figur des Bösen schwarz auf weiss gemalt werden muss. Dafür werden die Fakten, die graue Schatten auf das Bild werfen, schlichtweg ignoriert. Das Massaker in Orlando war ein homophober Anschlag. Dabei stört nur die Tatsache, dass der Killer im Schwulennachtclub Dauergast war und sich auf einer Gay-Dating-App angemeldet hatte. Die Zeitgenossen brauchen eindeutige Erklärungen. Sonst könnten sie auf die Idee kommen, die Gründe des Übels seien viel allgemeiner, komplexer und beunruhigender als gedacht. Vor allem verlangen plumpe Erklärungen plumpe Antworten. In diesem Fall: Mehr Sicherheit, mehr Überwachung, mehr Repression.

Nizza ist in Frankreich die Stadt mit der extensivsten Videoüberwachung und (nach Marseille) den meisten Stadtpolizisten. Das kommt daher, dass dort die berühmte Schere zwischen Arm und Reich besonders offensichtlich ist. Die Luxushäuser an der Promenade des Anglais wurden früher von der englischen Gentry bewohnt, heute eher von russischen Oligarchen. Unweit davon lebt das Tourismusproletariat. Menschen, die sich gern das Feuerwerk am 14. Juli anschauen, weil es eine seltene Gelegenheit ist, etwas umsonst zu erleben. Dass in Nizza „nur“ 16% für die Nationale Front stimmen, hängt einzig damit zusammen, dass die Stadt seit Jahrzehnten von Konservativen regiert wird, die Law-and-Order-Politik und Klientelismus knallhart betreiben. Das Sicherheitsbedürfnis ist in den letzten Jahren noch gestiegen, weil an der nahen italienischen Grenze tausende Migranten aus Afrika immer wieder versuchen, einzuwandern. Zudem herrschen dort wie überall im Lande seit acht Monaten Ausnahmezustand, permanente Kontrollen, und die Allgegenwart bewaffneter Sicherheitskräfte.

Wenn ein Wahnsinniger entscheidet, mit rudimentären Mitteln möglichst viele Menschen wahllos zu töten und schließlich selbst zu sterben, ist die Feststellung naheliegend: Dagegen sind alle Sicherheitsmaßnahmen der Welt machtlos. Nicht nur hat der Ausnahmezustand zu keiner Festnahme von Dschihadisten geführt, auch das Blutbad von Nizza vermochte er nicht zu verhindern. Mehr als ineffektiv sind solche Maßnahmen kontraproduktiv. Sie schüren Ängste, Rassismus und Aggressivität. Bereits im letzten Mai wurden in der Nähe von Marseille mehrere Personen von einem LKW-Fahrer verletzt, der willentlich gegen sie raste. Der Fahrer wurde freigesprochen. Die Opfer waren ja CGT-Demonstranten, die die Straße blockierten, Menschen also, die von der Regierung als „Geiselnehmer“ der Wirtschaft bezeichnet worden waren.

Weit davon entfernt, den Ausnahmezustand für gescheitert zu erklären, hat ihn die Regierung mit Unterstützung aller Parteien wieder einmal verlängert und sogar verschärft. Alle überbieten sich in Wahnvorschlägen. Ein Ex-Sarkozy-Berater schlug vor, solche Volksfeste von Soldaten mit Raketenwerfern überwachen zu lassen. Abgeordnete von rechts und links erklären jetzt unverblümt, das Land brauche den „permanenten Notstand“. Unschön ist die Eventualität, von einem Psychopathen getötet zu werden. Unangenehm ist die Vorstellung, in einem Hochsicherheitstrakt zu leben. Am schlimmsten ist aber der Gedanke, beide Sachen könnten zugleich Wirklichkeit werden.

 

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