Ach, wie schön ist gelebte Demokratie! Auf einem Platz kommunizieren Tausende, nicht über Facebook, sondern face to face, ohne Hierarchie, doch durchweg organisiert. Lückenlos reihen sich die Redebeiträge aneinander. Drei Minuten für die Antispezisten. Drei Minuten gegen das Finanzkapital. Drei Minuten für LGBT. Drei Minuten gegen Postkolonialismus. Drei Minuten für die Weltrevolution. Stundenlang. Tagelang. Aus der Zuhörerschaft kommt kein Applaus, kein Zwischenruf, kein Lacher. Statt dessen zeigen die disziplinierten Zuhörer ihre Zustimmung oder Ablehnung mit Händchenzeichen. Sie liken analog, sozusagen. Es gibt gar Signale um zu zeigen, dass der Beitrag zu lang ist oder dass die Bemerkung gerade sexistisch war. Das Prozedere stammt aus den USA und heisst „twinkle“, was unwillkürlich an das Kindergartenlied „Twinkle, twinkle little star“ erinnert. Tatsächlich hat die Besetzung das Zeug zum selbstverwalteten Freizeitpark. Dazu dürfen Meditationsworkshops nicht fehlen, ebenso wie Trommelgruppen, Malerei, Tanzzirkel und die obligatorischen Nerds, die das ganze per Livestream in die Welt schleudern. Auf diese Weise wird, so eine Aktivistin aus Deutschland, eine neue Art des Zusammenlebens erschaffen, voller Zuneigung, Fürsorge und Liebe. Das echte Leben im falschen.
Da es um das Hier und Jetzt geht, werden keine Forderungen gestellt. So wird keiner enttäuscht sein, wenn eines Morgens auf dem geräumten Platz der hinterlassene Müll von der Stadtreinigung beseitigt wird, dafür die soziale Misere unvermindert bleibt. Wer will überhaupt über eine Perspektive nachdenken? Von der Vielfalt der Wortmeldungen berauscht, übersehen die Teilnehmer leicht, wie sozial homogen sie eigentlich sind, nämlich in der überwiegenden Mehrzahl: weiße Stadtzentrumbewohner aus der Mittelschicht, Studenten, Akademiker, Kulturschaffende. Wer hätte sonst die Zeit, Abend für Abend endlos zu palavern? Wer hätte überhaupt die Lust?
Nach New-York mit Occupy-Wall-Street, Madrid mit 15M und einigen weiteren Metropolen sei jetzt also Paris mit seiner „Nuit debout“ daran. Mit friedlicher, gelebter Demokratie im Platzformat überschäumt. Zumindest wird das von wohlwollenden Berichterstattern erzählt. Es brauchte zwei Wochen täglicher Demonstrationen, Streiks, Straßenkämpfe, Blockaden und Besetzungen, damit die deutschen Medien überhaupt anfingen zu berichten. Schnell wurde dann eine präsentable Erzählung zusammengebastelt. „Nuit debout“ sei bloß die Neuauflage einer bekannten Folklore, so sympathisch wie harmlos. Ab und an darf wohl die idealistische Jugend ihr antikapitalistisches Gebaren ausleben. Lieber eine chaotische Bürgerbewegung als Politikverdrossenheit. Ohnehin werden nächstes Jahr alle den neoliberalen Kandidat wählen gehen, allein um seine rechtsextreme Herausforderin zu stoppen.
Kein gutes Theater ohne Buhrufer. Um Gegenempörung zu generieren, musste der konservative Essayist Alain Finkielkraut eine Stunde auf dem Platz umherirren, ehe ihn eine kleine Gruppe den Gefallen erwies, ihn zu beschimpfen. Prompt war das Gespenst des roten Totalitarismus wieder da. Aber nicht nur von Publizisten wird das Ereignis karnevalesk erlebt. Wie die Wespen auf das Konfitürenglas hat sich der Easyjetset der „global activists“ auf Paris gestürzt, um, wie sie sagen, Erfahrungen auszutauschen, die Bewegung international zu vernetzen und Stecklinge davon in andere Städte umzupflanzen. Für sie ist der Anlass bloß sekundär. Sind einmal die Menschen versammelt, sei die Eigendynamik selbstgenügend und technisch reproduzierbar.
Allein, diese Darstellung ist grob verzerrend. Zwar finden in etwa 200 Städten Frankreichs tägliche Platzbesetzungen oder Versammlungen statt. Doch haben diese mit einem selbstbeweihräuchernden Polithappening wenig zu tun. Nicht, dass die Beobachter halluziniert hätten; tatsächlich gibt es sie, die twinkle-twinkle-Händchen, die Dreiminuten-Weltverbesserungsvorschläge, die Trommelgruppen, doch ist das nur die augenscheinliche Oberfläche. Die Nuit Debout ist nicht Selbstzweck, sondern Station. Sie entstand als Verlängerung einer Demonstration, weil die Teilnehmer keine Lust hatten, auseinander zu gehen. Und sie beschäftigt hauptsächlich die ätzende Frage: Wie geht es hiernach weiter?
Auf allen Kanälen werden die gesitteten Bürgerversammlungen gepriesen, um gleich die Ausschreitungen zu bedauern, die sich an ihrem Rand ereignen. Am Donnerstag ging es erneut in den Straßen von Paris, Marseille, Rennes oder Toulouse recht gewalttätig zu. Von der Polizei, die mit einer ungewöhnlichen Härte gegen die Demonstranten vorgeht, ist die Eskalation offenbar gewollt. Andererseits haben sich in den letzten Wochen viele Jugendliche radikalisiert, im wahrsten Sinne dieses strapazierten Wortes. Teil der Nuit debout sind sie aber doch, die Hunderten, die vom besetzten Platz aus losziehen, etwa um sich zum „Apéritif bei Premierminister Valls“ einzuladen. Bewegung heisst Mobilität, und wenn diese von der Polizei blockiert wird, dann kommt es eben zu Ausschreitungen. Dennoch werden die mobilen Aktionisten vom statischeren Teil nicht desavouiert – womöglich liegt der Unterschied einzig darin, dass nicht alle so fit und furchtlos sind. Alle verfolgen ja ein gemeinsames Ziel. Denn aller Tierschutz- und Transgender-Bezüge zum Trotz gibt es sie wohl, die zentrale Forderung. Verlangt wird nach wie vor der Widerruf jenes Gesetzentwurfes, wonach der Kündigungsschutz aufgelockert werden soll und „in Sonderfällen“ einen 12-Stunden-Arbeitstag eingeführt werden darf. Freilich geht es um viel mehr als das. Um die vermeintliche Alternativlosigkeit neoliberaler Maßnahmen etwa. Um den finalen Absturz linker Parteienpolitik. Um die zynische Verachtung der Eliten. Um ein generelles Schnauze-voll-Gefühl. Doch ist eines sicher: Wird das Gesetz verhindert, dann öffnet sich ein Raum für weitere Veränderungen. Geht es durch, ist die Niederlage besiegelt.
Eine Bewegung kann nur fortdauern, indem sie sich intensiviert. Ihre erste Errungenschaft besteht darin, die Hindernisse an den Tag zu bringen, die sich eben jener Intensivierung in den Weg stellen. An diesem Punkt ist der französische Aufruhr jetzt angelangt. Darin unterscheidet er sich grundsätzlich von postmodernen neulinken Vorstellungen. Hier geht es nicht darum, ausdifferenzierte Belange aneinander zu reihen, sondern eine gemeinsame Kraft herzustellen. Nicht um unmittelbar erlebte Wohlfühldemokratie, sondern um Kampf. Das mag sich nach 19. Jahrhundert anhören. Aber sind wir nicht irgendwie ins 19. Jahrhundert zurückgerudert? Allerdings macht die alte Weisheit wieder die Runde: Die effektive Waffe der Machtlosen ist keine Platzbesetzung und keine Straßenschlacht, sondern die Lahmlegung der Produktion. Nur so wird die Toleranzgrenze überschritten und das Kräfteverhältnis verschoben. In der Nuit Debout sind jetzt Belegschaften, prekär Beschäftigte und Arbeitslose präsenter geworden. Der Ruf nach unbefristetem Generalstreik wird lauter. Dass die Gewerkschaften sich dagegen stemmen und auf vereinzelten Aktionstagen beharren, ist nicht das Hauptproblem. Sie repräsentieren nur noch eine schwindende Minderheit der Beschäftigten. Viel eher fragt es sich, ob ein Generalstreik zu einer Zeit der allgemeinen Zersplitterung überhaupt noch möglich ist. Wie können Jobhopper streiken? Oder gar Arbeitslose? Als Kompensationsmittel wird daher versucht, frei nach „Der kommende Aufstand“, der berühmten Broschüre des Unsichtbaren Komittees, „die Flüsse zu unterbrechen“. Am Donnerstag wurden zeitweise Häfen und Ölraffinerien von Demonstranten blockiert. Ob diese Kampfform effektiv durchgesetzt werden kann, ist ungewiss.
Eine weitere Schranke ist die soziale Apartheid, die seit Jahrzehnten Stadtzentren und Banlieues trennt. Auf den besetzten Plätzen sind kaum arabischstämmige oder schwarze Bewohner der fernen Wohnblocks anzutreffen. Wieso sollte sich auch ein kleiner Haschdealer oder Gelegenheitsschwarzjobber um Kündigungsschutz scheren? Als sich die Trabantenstädte 2005 erhoben, kam kein Unterstützung von außen. Dafür war die Erfahrungskluft zu groß. Dort findet Polizeibrutalität nicht nur während Protesten statt, sondern täglich. Am Interessantesten sind daher die bescheidenen Nuit-Debout-Versammlungen, die fern von Fernsehkameras und Radikaltouristen in den „Problemvierteln“ abgehalten werden. Die Initiatoren tun sich mit dem Verdacht der Bewohner schwer, sie seien als bloße Hilfskräfte gerufen und nicht als gleichberechtigte Gesprächspartner. Wenn sich die seit dem Anschlag auf Charlie Hebdo verpestete Atmosphäre auflockern würde, wäre das bereits ein Durchbruch.
Auf jeden Fall scheinen viele sich auf einen langfristigen Kampf einzustellen. Dafür spricht die beschleunigte Verrottung der etablierten Parteienpolitik. Selbst links der Sozialisten profitiert keine Partei von den Protesten. Und angesichts der unerwarteten Rückkehr der sozialen Frage sind die Rechtspopulisten auf einmal leise geworden. Unwahrscheinlich ist vor allem, dass die Hunderttausenden, die sich zusammengefunden haben, schnell in die Isolation zurückkehren werden. Und noch etwas: Bislang bleibt die gute Laune ungebrochen. In Rennes wurde eine Demonstration mit einem Riesentransparent angeführt, mit der optimistischen Lagebeurteilung: „Die objektiven Bedingungen sind vorhanden.“ Ob das stimmt, werden wir erst hinterher wissen.
(Veröffentlicht in leicht veränderter Form in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 1. Mai 2016)