L.I.S.A.: Herr Paoli, Sie haben jüngst und pünktlich zum Jahrestag der ersten sogenannten Gelbwesten-Proteste ein Buch mit dem Titel “Soziale Gelbsucht” veröffentlicht, in dem Sie ein Jahr “Gilets Jaunes” kritisch analysieren. Nun ist über die Bewegung der Gelbwesten bereits viel berichtet und geschrieben worden. Warum haben Sie sich nun mit dieser Protestform auseinandergesetzt? Welche Vorüberlegungen gingen Ihrem Buch voraus?
Paoli: Über die Gelbwesten wurden zwar viele Berichte geschrieben, die meisten davon waren jedoch furchtbar verzerrend wenn nicht verleumderisch. Das hat mich empört, ich fühlte mich zu einer Gegendarstellung verpflichtet, obwohl ich kein politischer Journalist bin. In Frankreich war die Berichterstattung nicht besser, aber immerhin konnten Franzosen die von Gelbwesten besetzten Verkehrskreisel selbst besuchen und sich eine eigene Meinung bilden. Hingegen sind Deutsche, die sich informieren wollen, auf Auslandskorrespondenten und Leitartikler angewiesen. Die Gründe ihres journalistischen Versagens wären ein Forschungsgegenstand für sich…
Im Dezember 2018 hatte ich eine Samstagsdemonstration besucht, ich kannte persönlich Menschen, die mitinvolviert waren, vor allem verfolgte ich tagtäglich die Kommunikation der Gelbwesten auf soziale Medien. Eine ihrer Facebook-Seiten zählt 300.000 Mitglieder. Da kann man getrost davon ausgehen, dass die Gefühle, Motive und Meinungen in ihrer ganzen Spannbreite ziemlich getreu wiedergegeben werden. Eine direkte, ungefilterte Kenntnisnahme war ohne großen Aufwand möglich. Stattdessen beschränkten sich die Hauptmedien darauf, die Sichtweise der Regierung zu vermitteln. Macron hatte ja die Gelbwesten eine „hasserfüllte Menge“ genannt, und das wurde zum Leitmotiv der Mediokraten, mit einem überheblich pädagogischen Gebaren gekoppelt: Die einfachen Leute, die da draußen protestieren, seien unqualifiziert, ihnen fehle das Expertenwissen, um wirtschaftliche und politische Zusammenhänge korrekt zu begreifen. Darum könne die Vermittlung nur unilateral geschehen. Die Worte dieser Menschen, ihre Beschwerden, ihre Wünsche wurden für vernachlässigbar gehalten.
Mich interessiert an dieser Bewegung, dass sie absolut neu ist. Sie lässt sich nicht mit herkömmlichen Kategorien begreifen. Das ist auch der Grund, weshalb sie vielen Linken suspekt ist. Sie erkennen die ihnen vertraute Symbolik, die linke Protestsprache nicht wieder. Auch ich war ganz am Anfang nicht sicher, ob sich da nicht eine rechtsnationale Gruppierung zusammenbraute. Das konnte so wenig ausgeschlossen werden, wie umgekehrt eine egalitär-universalistische Entwicklung. Doch gerade diese Unbestimmtheit war das Spannende. Die meisten Teilnehmer hatten keine vorhandene politische Erfahrung. Sie agierten spontan und experimentell. In diesem Sinne waren die Uhren auf null gestellt, eine seltene Gelegenheit, zu prüfen, welche Elemente der altbewahrten Protesttradition schließlich doch unverzichtbar sind, welche nicht, welche wiederum neu erfunden werden und warum. Anstatt sich gleich pro oder kontra zu positionieren, waren Neugierde und Offenheit geboten.
Auf der intellektuellen Ebene war ich von diesen Ereignissen fasziniert, weil sie die Thesen zu bestätigen schienen, die ich ein knappes Jahr davor in meinem Buch „Die lange Nacht der Metamorphose“ vorgestellt hatte. Ich hatte über die soziale und kulturelle Trennung zwischen Peripherien und Metropolen geschrieben, über die negativen Auswirkungen des meritokratischen Systems auf die Globalisierungsverlierer, über die Unempfänglichkeit der urbanen Linken für solche Themen. Damals schrieb ich: „Die meisten Menschen sind unsichtbar gemacht worden.“ Nun zogen sich die Unsichtbaren „Sichtbarkeitswesten“ an…
“Diese Exklusion ist bereits ein Gewaltakt”
L.I.S.A.: In der medialen Berichterstattung erscheinen die Gilets Jaunes als ein antiliberaler, rechtsextremer, antisemitischer und homophober Mob, der keine andere Agenda habe, außer Gewalt und Chaos zu stiften. Tatsächlich kam es im Verlauf dieses einen Jahres zu Plünderungen und Zerstörungen mit zahlreichen Verletzten und sogar einer Toten. Sie hingegen stellen die Gelbwesten als eine soziale Bewegung dar, die mit konkreten Forderungen agieren würde. Wie erklären Sie sich diese völlig gegensätzlichen Wahrnehmungen und Charakterisierungen?
Paoli: Zunächst einmal: Die vielen Verletzten und Verstümmelten gehen auf das Konto der Repression. Und diese hat Methode. Letztens hat Le Monde den wortwörtlichen Befehl eines Pariser Polizeikommandanten veröffentlicht: “Geht auf sie los, ohne Rücksicht auf Verluste, schlagt sie nieder, das wird die folgenden Demonstrierenden abhalten!” Zwangsläufig führt eine solche Strategie dazu, dass die einen aus Angst vor Gewalt lieber zuhause bleiben, die anderen selbst zu Gewalt greifen. Hinzu kommt die Feststellung: Wenn wir uns friedlich versammeln, wird nicht berichtet, wenn mitten auf den Champs-Élysées eine Barrikade brennt, macht sie Schlagzeilen. Zu Plünderungen kam es übrigens so gut wie nie, weil die Gelbwesten Ladenbesitzer nicht gegen sich aufbringen wollten.
Um auf die Kernfrage zu kommen: Ich sehe keinen Widerspruch zwischen Gewalt und konkreten Forderungen. Wenn hunderttausende auf die Straße gehen, auf das Risiko hin festgenommen oder verletzt zu werden, dann tun sie das, weil ihnen keine vermittelnde Instanz zur Verfügung steht, kein anderer Spielraum bleibt, um ihr Anliegen zur Geltung zu bringen. Diese Exklusion ist bereits ein Gewaltakt. Wenn eine Regierung in der Überzeugung handelt, sie sei im Besitz der einzigen Wahrheit, wird jede Anfechtung sofort als kriminelle Handlung geahndet. Wenn wiederum die Tätigkeit der Regierung als illegitim empfunden wird, wird das staatliche Gewaltmonopol herausgefordert. Beispiele davon lassen sich in der Geschichte zu Tausenden finden.
“Die Gelbwesten erinnern an die Zeit im ausgehenden 19. Jahrhundert”
L.I.S.A.: Sie spannen bei der Analyse der Gelbwesten einen Bogen bis zurück zum Beginn der Französischen Revolution von 1789. Auch damals habe eine unorganisierte und führerlose Masse, die Autorität, König und Elite, recht undifferenziert attackiert – “Haut ab!” -, dadurch aber eine Revolutionierung der gesellschaftspolitischen Ordnung in Gang gesetzt. Wie gut trägt der Vergleich mit der Situation 230 Jahre später und wo sind seine Grenzen?
Paoli: Bei den Gelbwesten ist der Bezug auf die Französische Revolution rein symbolisch. Jedem ist die Geschichte mehr oder minder bekannt, sie ist Teil der großen nationalen Erzählung. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, die Dreierlosung von 1789 steht ja auf jedem öffentlichen Gebäude. Und die Meinung ist weitverbreitet, dass davon allein die Freiheit konkretisiert worden ist, und zwar nur als marktförmige Freiheit. In meinem Buch ist ein Demonstrant abgebildet, der auf den Rücken seiner Gelbweste geschrieben hat: „Freiheit ohne Gleichheit ist nichts!“ Das ist im Kern die Debatte, die mit 1789 anfing. Wie lassen sich beide gegensätzliche Begriffe versöhnen? Die Antwort der Sansculotten war: Indem denen ein dritter Begriff hinzugefügt wird, Brüderlichkeit oder moderner ausgedruckt: Solidarität. Auf Verkehrskreiseln war oft die Parole zu lesen: „Brüderlichkeit haben wir uns bereits zurückgeholt, Freiheit und Gleichheit kriegen wir noch!“ Um eine weitere Parallele zu 1789 zu ziehen: In seinem Bestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ schreibt Thomas Piketty von der fortschreitenden „Refeudalisierung der Gesellschaft“. Hinter dem demokratischen Firnis verfestigt sich eine oligarchische Macht, die beinah so erblich ist, wie die Aristokratie des Ancien Régime. Freilich hört damit der Vergleich auf. Niemand hat die Absicht, eine Guillotine zu errichten!
Zudem glaube ich, dass das Urbild von 1789 auch deswegen verwendet wird, weil modernere Bezüge in Vergessenheit geraten sind. Die Geschichte der Arbeiterbewegung wird nicht in der Schule gelehrt. Auf die Frage „Warum singt Ihr denn die Marseillaise?“ antwortete ein Demonstrant: „Es ist das einzige Lied, dass jeder kennt!“ In gewisser Hinsicht erinnern eher die Gelbwesten an die Zeit im ausgehenden 19. Jahrhundert, als die Trennung zwischen ökonomischen und politischen Belangen, sprich: zwischen Gewerkschaften und Parteien noch nicht vollzogen war. Da beide Organisationsformen heute in Diskredit geraten sind, wird auf „primitivere“, symbiotischere Mittel zurückgegriffen.
“Die einen reden von Effizienz, die anderen von Gerechtigkeit”
L.I.S.A.: Die Gilets Jaunes haben es bisher vermieden, eine Organisation zu gründen und sich von einer Führungsgruppe oder einem Sprecherrat repräsentieren zu lassen. Auch Gesprächsangebote der Regierung und des Präsidenten wurden ausgeschlagen. Warum? Macht man sich nicht unglaubwürdig, wenn man als Protestbewegung keine Dialogbereitschaft zeigt? Oder steckt dahinter eine konkrete Strategie?
Paoli: Die Unmöglichkeit eines Dialogs kommt in erster Linie daher, dass beide Seiten verschiedene Sprachen sprechen. Auf der einen Seite der technokratisch-wirtschaftsliberale Diskurs, Argumente der „moralischen Ökonomie“ auf der anderen. Die einen reden von Effizienz, die anderen von Gerechtigkeit. Gesprächsangebote der Regierenden heißen doch: „Ich höre deine Beschwerde aufmerksam zu und erkläre dir dann, warum mein Programm ohne Alternative ist.“ Davon sind sie überzeugt. Die Funktion des Gesprächs besteht ausschließlich darin, die Alternativlosigkeit besser zu kommunizieren.
Ich glaube, dass die Form eines Konflikts immer von der Gegenseite bedingt wird. In der Geschichte Frankreichs mussten soziale Errungenschaften immer erkämpft werden. Kein Bismarck, sondern Fabrikbesetzungen haben zur sozialen Gesetzgebung geführt. Und wenn ein Gesetz für illegitim gehalten wird, dann wird nicht am runden Tisch verhandelt, sondern so lange gestreikt, bis es zurückgenommen wird. In diesem Sinne handeln die Gilets Jaunes durchaus in der landesüblichen Tradition! Neu ist allerdings, dass die institutionelle Regulierung des Kräfteverhältnisses nicht mehr funktioniert. Und da stellt sich sehr wohl die Frage der Organisation. Offensichtlich wird es nicht reichen, jeden Samstag zu demonstrieren. Irgendeine Form von nachhaltiger Gegeninstitution ist vonnöten. Auch mit gewählten Vertretern, demokratischem Prozedere, formalisierten Koordinierungen, Versammlungsräumlichkeiten usw. Das setzt viel politische Fantasie voraus.
“Die Gilets Jaunes reflektieren die zersprengte Arbeitswelt der Gegenwart ziemlich genau”
L.I.S.A.: Apropos Repräsentation: Wen repräsentieren die Gelbwesten eigentlich? Und was sagt das Aufkommen der Gilets Jaunes aus über die aktuellen soziopolitischen Verhältnisse in einer Gesellschaft wie der Frankreichs zum einen und über die Akzeptanz der repräsentativen Demokratie westlicher Ausprägung zum anderen?
Paoli: Die Gilets Jaunes repräsentieren sich selbst. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass sie in der großen Mehrheit gering verdienende Arbeiter, Handwerker und Dienstleister sind, ob in kleinen Betrieben eingestellt oder selbständig. Sie sind zur Hälfte Frauen, wohnen meistens in periurbanen Zonen. Mit anderen Worten, sie reflektieren die zersprengte Arbeitswelt der Gegenwart ziemlich genau. Politisch herrscht unter ihnen das Gefühl, von niemandem vertreten zu sein. Seit Jahrzehnten wird das neoliberale Programm durchgesetzt, ganz gleich, welche Partei regiert. Ich glaube nicht, dass die meisten Gelbwesten die repräsentative Demokratie als solche anfechten, sondern vielmehr die Selbstaufgabe ihrer Handlungsfähigkeit. Daher die scheinbare Paradoxie, Forderungen an eine Regierung zu stellen, deren Entlassung man andererseits verlangt.
“Jenseits der partikularen Beschwerdegründe ein gemeinsames Ziel”
L.I.S.A.: In der Berichterstattung sind die Gilets Jaunes kaum noch sichtbar. Ist die Bewegung damit zu ihrem Ende gekommen? Hat sich der Protest erschöpft? Dagegen ist ein anderer Widerstand mit Riot-ähnlichen Erscheinungen in den Blick der veröffentlichten Öffentlichkeit geraten: der Protest in Hongkong. Ein ähnlicher Fall und damit ein weiteres Symptom für gegenwärtige Legitimationskrisen bestehender Ordnungen?
Paoli: Im vergangenen Jahr fanden Massenproteste und Aufstände in dutzenden Ländern statt. Hongkong ist nur ein Fall davon, in diesem Zusammenhang nicht unbedingt der aufschlussreichste, weil von spezifischen nationalen und geostrategischen Elementen gekennzeichnet. Eine engere Verwandtschaft lässt sich zu den Bewegungen in Libanon, Algerien, Ecuador und vor allem Chile ausmachen, weil es dort ausdrücklich um die wachsende soziale Ungleichheit geht, und um die komplette Delegitimierung der politischen Klasse. Übrigens fand zwischen all diesen Ländern eine explizite gegenseitige Anerkennung statt.
Sicherlich ist im Laufe der zermürbenden Monate die Zahl der aktiven Gelbwesten zurückgegangen, doch obwohl sie in der Berichterstattung häufig für tot erklärt worden sind, verging kein einziger Samstag ohne Demonstrationen, Besetzungen und Blockaden in mehreren Städten Frankreichs. Aber das ist nicht einmal das ausschlaggebende. Schließlich ist die gelbe Weste nur ein Kleidungsstück. Was von dieser Bewegung erhalten bleibt, ist etwas Diffuseres. Die enorme Mobilisierung gegen die Rentenreform im Dezember 2019 zeigt, wie stark die Gilets Jaunes das allgemeine Protestklima in Frankreich verändert haben. Zwar sind die Streiks von den Gewerkschaften aufgerufen worden, doch ist oft von einer „Giletjaunisation“, einer Vergelbwestenisierung des Konflikts die Rede. Gemeint ist, dass die üblichen Trennungen gesprengt werden. Lehrer schließen sich mit Eisenbahnern zusammen, Rechtsanwälte mit Krankenschwestern, Studenten mit Dockern. Das schönste Ergebnis der Gelbwestenbewegung ist eben, dass es keine Rolle mehr spielt, ob jemand eine gelbe Weste trägt, eine rote Gewerkschaftsjacke, eine „schwarzen Block“-Outfit oder eine klimaaktivistische Maske. Jenseits der partikularen Beschwerdegründe wird ein gemeinsames Ziel ausgemacht.
Guillaume Paoli hat die Fragen der L.I.S.A.Redaktion schriftlich benatwortet.
Quelle: https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/gelbwesten?fbclid=IwAR1bzoN2VuEFhrgMhIzS1jYid3PxdvlIpwtflav_wA5rK_0Hl7NLZpWdwx0