Als sie 1940 im Londoner Exil lebte, schrieb die französisch-jüdische Philosophin Simone Weil eine denkwürdige „Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien“. Die Demokratie, argumentierte sie, würde viel besser funktionieren, wenn jeder Mandatsträger sich im eigenen Namen entscheiden könnte und sich je nach Angelegenheit mit den einen oder anderen Kollegen unabhängig von ideologischen Zugehörigkeiten zusammenschließen würde. Stattdessen förderten alle Parteien Herdentrieb und Prinzipienvergessenheit. Laut Weil ist politischer Pluralismus dem Einparteisystem gegenüber einzig aus dem Grund von Vorteil, dass die totalitären Keime, die jeder einzelnen Partei innewohnen, sich dank der Konkurrenz gegenseitig neutralisieren. Indes sei der prinzipielle Mangel des politischen Geschäfts nicht aufgehoben, nämlich dass die Sorge um das Gemeinwohl von der Pflicht zur Parteidisziplin stets gedrosselt werde. Es gelte, eine bessere Gestalt zu erfinden.
Hat jetzt die Stunde des Wandels geschlagen? Freilich hat Simone Weils Vision mit der politischen Erosion wenig zu tun, die gegenwärtig die alten parlamentarischen Demokratien heimsucht. In Europa sterben Parteien aus. Ob in Italien Christdemokraten und Kommunisten oder in Frankreich Gaullisten und Sozialisten, Formationen, die jahrzehntelang die festen Koordinaten des bipolaren Systems darstellten, sind bis zur Unkenntlichkeit geschrumpft. Selbst im stabilitätsfixierten Deutschland traut sich niemand mehr von „Volksparteien“ zu reden. Wahlerfolge verbuchen zwar zurzeit die Grünen als Protestpartei der Mitte und die AfD als Sammelbecken für reaktionäre Neurosen, doch ist eine Partei im klassischen Sinne nicht nur ein Wahlverein. Auch im Alltag sollte sie ihren Mitgliedern Zugehörigkeitsgefühl, Identifikation, Meinungsbildung und Orientierung vermitteln. Fraglich ist, ob das Angebot noch gewährleistet werden kann, ja ob es überhaupt eine Nachfrage dafür gibt.
Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Am Offensichtlichsten ist die inhaltliche Angleichung von ehemals gegnerischen Doktrinen. Seitdem Sozialdemokraten zum Wirtschaftsliberalismus und Christdemokraten zum Kulturliberalismus konvertiert sind, fehlt es beiden in der Tat an Profilschärfe. Aufgrund der Auffassung, Wahlen lassen sich in der Mitte gewinnen, sind alle regierungswillige Parteien in die Richtung jenes imaginären Punkts geglitten, wo Gegensätze durch den statistischen Durchschnitt neutralisiert werden. Nur wurde die Entpolarisierung in den Parteizentralen entschieden. Die Basis ihrerseits hängt an den Grundsätzen fest, die jeweils ihr Engagement motiviert hatten, hießen diese auch soziale Gerechtigkeit, traditionelle Familienwerte, Frieden oder Chancengleichheit. Schwer vermittelbar und gar fatal ist die Botschaft, solche Werte seien mit Realpolitik, Globalisierung und Sittenwandel unvereinbar, ja obsolet geworden. Wer durch sein Engagement keine Karrierevorteile anstrebt, ist dann versucht, sich fern zu halten. Zudem hat die Entschärfung von Lagerbildungen den Bürgern eine mächtige Motivation genommen, politisch aktiv zu sein, nämlich die Abwehr gegen den Feind. Zwar hat in vielen Ländern die rechtspopulistische Gefahr eine solche Gegenmobilisierung wieder reaktiviert, umso mehr trägt diese schließlich doch zur gesteigerten Vereinheitlichung von linken, liberalen und konservativen Kräften bei. Gegen die rechte Minderheit und ihren Anspruch, „das Volk“ zu sein, stellen Massenzusammenkünfte zwar unter Beweis, dass sie die tatsächliche Mehrheit sind, doch kann Einstimmigkeit nur erzielt werden, indem alle zwischenparteilichen Differenzen beiseitegeschoben werden.
Voraussichtlich werden die meisten Parteien weiter an Bedeutung verlieren. Der Mitgliederschwund hat erst begonnen. Noch aktiv sind vorwiegend ältere Menschen, die in ihrer Jugend beigetreten waren und aus Tradition oder Nostalgie weitermachen. Biologisch bedingt wird dieser Vorrat bald versiegen, und die Ablösung fällt dürftig aus. Allerdings gründet die neue Generation keine neue Partei, von Eintagsfliegen wie den Piraten abgesehen. Wobei wir bei dem grundliegenden Problem wären, nämlich die Antiquiertheit der Parteiform als solche. Für Parteiaktivität sind gewisse persönliche Dispositionen vonnöten, die Verbundenheit zu einem Ort etwa, die Bereitschaft, Zeit zu investieren oder die Selbstverpflichtung zur kontinuierlichen, langfristigen Teilnahme. Mit dem Zuwachs an Mobilitätszwang, Zeitknappheit und Patchwork-Lebensweise sind solche Bedingungen schwer zu gewährleisten. Aus diesem Grund erleben übrigens auch Kirchen, Gewerkschaften und sonstige Vereine einen ähnlich dramatischen Rückgang. Hinzu kommt, dass die Digitalisierung eine andere Art von Öffentlichkeit hervorgebracht hat, schneller, kurzlebiger, auf spezifische, punktuelle Anliegen gerichtet. Es lässt sich doch einfacher eine Online-Petition anklicken, als in einem unbequemen Lokal einer Versammlung mit sich endlos wiederholenden Redebeiträgen beiwohnen. Überhaupt hat sich die herkömmliche Sphäre des Politischen in viele Teilbereiche zersplittert (Wohn-, Umwelt-, Gender-, Religions-, Rassismus-, Bildungsfrage usw.) und immer öfter wird in Zweifel gezogen, ob es wünschenswert und gar möglich wäre, all diese Aspekte unter einem Dachverband zu subsumieren.
Die organisatorische Form, welche die Partei zunehmend zu ersetzen scheint, ist die selbsternannte Bewegung. Bereits das Wort suggeriert einen Bruch mit der statischen, schwerfälligen Gestalt des herkömmlichen Verbands. „Cinque Stelle“ in Italien, „Podemos“ in Spanien, „En Marche“ und „La France Insoumise“ in Frankreich, „DiEM 25“ in ganz Europa, seit kurzem „Aufstehen“ in Deutschland: Die ideologische Ausrichtung mag ganz verschieden sein (wobei meistens eine Überwindung des Rechts/Links-Gegensatzes behauptet wird). Doch weisen diese neuen Zusammenschlüsse gemeinsame Züge auf, allen voran, dass sie die politische Landschaft überraschend schnell und effektiv aufmischen können. Das war besonders in Frankreich der Fall: Kaum hatte Emmanuel Macron seine Bewegung verkündigt, zerbröselten die etablierten Parteien wie ein von Termiten zerfressenes Holzgebälk. Offenbar hatten Parteifunktionäre jeder Couleur nur auf den Moment gewartet, da sie sich endlich von nicht mehr geglaubten Diskursen und überkommenen Verpflichtungen befreien würden. Den Bürgern ihrerseits, die sich von der Politik abgewandt hatten, wurde die Möglichkeit in Aussicht gestellt, basisdemokratisch mitzubestimmen.
Organisatorisch finden diese Bewegungen vorwiegend im virtuellen Raum statt. Je nach eigenen Präferenzen können sich alle Bürger online anmelden, dort Informationen erhalten, sich austauschen, Vorschläge machen und abstimmen. Selbstverständlich finden auch physische Treffen statt, doch Willensbildung und Entscheidungsfindung vollziehen sich im Wesentlichen digital. Die Software sorgt dafür, dass Politik sich so bequem und unverbindlich betätigen lässt wie sonstige soziale Netzwerke und Online-Aktivitäten. In der Tat sprechen einige Argumente für das Modell. Jeder kennt aus seinem Freundeskreis Menschen, die sich aus biografischen Gründen jeweils einer Partei verpflichtet fühlen, dennoch schnell übereinkämen, sobald es um konkrete Forderungen ginge – mehr Investitionen in Infrastrukturen und Schulwesen etwa, verstärkte Kontrolle von Waffenexporten, ein Pestizid-Verbot oder Steuererhöhungen für Spitzenverdienende. Würde eine transparteiische Bewegung solche Forderungen erheben, bliebe sie von Loyalitätsdilemmata verschont. Auf diese Weise hätten vielleicht spezifische Maßnahmen mehr Chancen, umgesetzt zu werden, als auf dem prozeduralen Leidensweg durch die Parteiinstanzen und anschließenden Koalitionsverhandlungen. Das wäre die institutionelle Anerkennung der Tatsache, dass gesellschaftliche Veränderung in der Regel von unten kommt und nicht dekretiert wird.
Und doch ist die bisherige Erfahrung mit neuartigen Bewegungen ziemlich enttäuschend. Allen voran Macrons „En Marche“, die sich ganz schnell als fauler Trick entpuppte, ein Rettungsversuch der etablierten Parteien, deren Zustimmungswerte einen historischen Tiefpunkt erreicht hatten. In der französischen Nationalversammlung sitzen zwar heute weniger professionelle Politiker, dafür mehr Millionäre als je zuvor. Jene Politik, die wachsende Verdrossenheit verursacht hatte, wird unverändert fortgesetzt. Von diesem Sonderfall abgesehen zeigt die bisherige Erfahrung, dass das horizontal-demokratische Verfahren manch einer Bewegung des neuen Typs so trügerisch sein kann, wie der „demokratische Zentralismus“ der kommunistischen Parteien von einst. Zwar mögen unter der labilen Anhängerschaft viele unkonventionelle und gar vernunftgeleitete Vorschläge ausgetauscht werden, doch seltsamerweise setzen sich am Ende immer die Ansichten der führenden Köpfe durch. Das hängt damit zusammen, dass in unserem angeblich „postheroischen“ Zeitalter die charismatische Figur des Leaders unvermindert vorherrscht, zumal er den Vorteil einer stetigen medialen Präsenz genießt. Eine weitere Beschränkung von online organisierten Netzwerken ist, dass sie ein sozial ziemlich homogenes Milieu erreichen, meistens gut ausgebildete Menschen mit vorhandener politischer Erfahrung. Auch in diesem Hinblick ist noch kein richtiger Ersatz für die alte Parteiarbeit gefunden worden, die vielen polierten Türklinken eingeschlossen.
Trotz – oder vielleicht wegen – der Schwächung von vermittelnden Körperschaften wie Parteien, NGOs oder eingetragenen Bewegungen nimmt das politische Engagement tendenziell zu, in Form von sporadischen Aktionen die über soziale Netzwerke viele Menschen sehr schnell mobilisieren. Aktuelle Beispiele sind die Demonstrationen am Hambacher Forst oder in Frankreich die Straßenblockaden der „gelben Warnwesten“ gegen hohe Spritpreise. Ob solche Ausbrüche die Vorboten einer neuen Organisationsform sind, steht noch in den Sternen.