NBIZ: Guillaume, du hast gerade den Günther Anders Preis für dein Buch bekommen, und das hat mir auch eingeleuchtet. Aber abgesehen davon ist Günther Anders in dem Buch sehr prominent vertreten. Könntest du dazu ein paar Sätze sagen?
GP: Günther Anders ist für mich zunächst der Denker über Hiroshima und die Folgen der ersten Atombombe. Er ist der erste, der erkannt hat, was für ein Bruch in der menschlichen Erfahrung Hiroshima war. Und zwar nicht als Ereignis, sondern als Vorspiel. Hiroshima war die Ankündigung eines neuen Zeitalters, in dem theoretisch in jeder Sekunde die Welt durch Atomwaffen vernichtet werden könnte. Was macht das mit uns, dass jetzt und für immer die Auslöschung der Menschheit wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen schwebt? Und doch geht das Leben wie gehabt weiter, ohne sich wirklich Gedanken darüber zu machen. Anders wollte seine Zeitgenossen aufrütteln, sie mit dem konfrontieren, was er „Apokalypse-Blindheit“ nannte.
Auch über Auschwitz hat er geschrieben, aber da war er nicht der Einzige. Das taten auch Adorno und andere. Zumindest in Europa ist das Gedenken an Auschwitz viel präsenter als Hiroshima, obwohl jetzt mit dem Ukraine-Krieg die atomare Vernichtung wieder auf der Tagesordnung steht. Oft wird die Singularität des Holocaust betont. Im Gegensatz dazu steht Hiroshima für Wiederholbarkeit. Zumal heute etliche Länder in Besitz von Atomwaffen sind. Das zweite, was mich an Anders interessiert, ist die Verbindung mit seinen anderen Thesen, die man als Technikkritik zusammenfassen kann. Für ihn ist die Atombombe nicht als Einzelphänomen zu betrachten, sondern als praktisch logische Konsequenz des Technik-Problems. In Die Antiquiertheit des Menschen beschreibt er das Gefälle zwischen Herstellung und Vorstellung. Also: wie die Menschen die Konsequenzen ihrer Produktion nicht wirklich begreifen. Wie sie von ihren Produkten überrannt werden. Das scheint mir heute noch aktueller als zu seiner Zeit. Diese Klimaveränderung ist nur das Symptom einer größeren, umfassenderen Krise – eines Desasters, wie ich das nenne. Ich wollte untersuchen, inwieweit man Günther Anders‘ Thesen auf diese neue Situation übertragen kann.
NBIZ: Was sind die Unterschiede zwischen der atomaren Gefahr, wie er sie beschrieben hat, und der jetzigen Situation, die natürlich eine andere ist?
GP: Weil es jetzt eben nicht um eine künftige Gefahr geht, sondern um einen Prozess, der schon in Gange ist. Der Atomtod wäre ein plötzliches Ereignis, eine Sekunde und dann ist alles vorbei. Dafür sind Klimaerwärmung, Artensterben, Wasserknappheit usw. Teil einer langen, unheilvollen Entwicklung, wobei der Endpunkt an sich keine Rolle spielt. Aber in beiden Fällen versagt die Vorstellungskraft. Darum ist Anders wichtig.
NBIZ: Amitav Ghosh bezeichnet den Prozess der kolonialen Eingriffe als Terraforming, und setzt den Beginn 1621 an, als die Holländer eine Insel in der Banda See zur Erringung des Monopols auf die Muskatnuss eingenommen hatten. Du beschreibst in Deinem Buch sehr genau das Aufdrängen der westlichen Produktionsweise, was einhergeht mit der Zerstörung der ganzen indigenen Kulturen, die dort gelebt haben. Darüber hinaus können wir in diesen ehemals kolonisierten Regionen jetzt auch das Scheitern der dort übergestülpten westlichen Werte feststellen. Die westliche Produktionsweise wird gerne übernommen. Diese ganzen Moralvorstellungen, die auch der Westen bzw. die Kolonisatoren nie je eingehalten haben, werden ad absurdum geführt. Zu diesem historischen Aspekt, also wann die Grundlagen für die Klimaveränderungen eigentlich begonnen haben, würde ich gern noch mehr erfahren.
GP: Generell finde ich, dass der Frage, wie und wann alles anfing, zu viel Bedeutung beigemessen wird. Ab welchem ausgefallenen Haar genau hat man eine Glatze? Natürlich hat die Frage keinen Sinn: Eines Morgens schaut sich einer im Spiegel und stellt fest, dass er halt eine Glatze hat. Das Bewusstsein kommt immer nachträglich. Andererseits kann die Vorstellung der Wirklichkeit vorausgehen. Und sind nicht dann die Grundlagen irgendwie bereits vorhanden? Ich habe letztens gelesen, dass im 18. Jahrhundert ein Jesuit, Louis-Bertrand Castel, vermutlich der erste war, der behauptet hat, der Mensch sei imstande, das Klima zu verändern. Er wurde damals für einen Spinner gehalten. Die Einsicht hatte er nicht aus empirischer Forschung, obwohl es mit der Kolonisierung Amerikas schon Anzeichen gab, wie sich lokal Klimaverhältnisse durch menschliche Eingriffe veränderten. Aber das war von ihm eine logische Überlegung, ausgehend von der Frage: Was unterscheidet die menschliche Aktivität von den Tieren und Pflanzen? Es war genau die Zeit, als die Naturwissenschaft so einen Aufwind hatte. Nach Castel ist der Mensch kein rein natürliches Wesen, sondern ein künstliches. Die Sphäre des Künstlichen unterscheidet ihn von der Natur, und sie kann beliebig ausgedehnt werden. Er züchtet Tiere und Pflanzen, extrahiert Mineralien, es gibt eigentlich keine richtige Grenze, und irgendwann wird er wohl das Klima verändern. Mehr lesen…