Die Wegkuratierung des Widerspenstigen

Viele werden mir vorhalten, mein Beitrag sei subjektiv, persönlich und minoritär. Na und?“ (Pasolini)

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Einmal machte der französische Hofintellektuelle Jacques Attali eine interessante Bemerkung: Im Grunde, sagte er, ist heute jeder Standort, ob Land oder Stadt, nichts anderes als ein Hotel. In dieser Hinsicht ist es zwar wichtig, dass die Eingesessenen angemessen bezahlt werden und annehmbare Arbeitsbedingungen bekommen. Wichtiger ist aber, dass das Personal Eines begreift: Es ist nur da, um internationale Gäste zu empfangen und zu bedienen, jene globale Klasse, die für Forschung, Innovation und Wertschöpfung sorgt. Lässt der Service zu wünschen übrig, dann ziehen die Gäste in ein anderes Hotel und der Standort verkommt. Von diesem Modell verspricht sich Attali viele Vorteile und gar die Ankunft des ewigen Friedens: „Man kann sein Leben für ein Territorium, eine Kultur oder für Werte opfern; aber wer wäre schon bereit, für ein Hotel zu sterben?“

Daran musste ich denken, als Chris Dercon, der designierte Intendant der Volksbühne, im Interview erklärte: Berlin ist heute eine kosmopolitische Stadt. Hier leben viele hochgebildete junge Leute aus der ganzen Welt und sie können kein Deutsch. Da haben wir doch ein Problem mit dem deutschsprachigen Theater. Es wäre ja ungastlich, wenn nicht arrogant, auf einem Repertoire zu beharren, das die neuen Wahlberliner nicht verstehen. Für sie soll sich also die Volksbühne nicht-verbalen Kunstformen wie Tanz oder Performance öffnen. Zudem arbeite der Kurator an „einer neuen Art von Sprache“, ein Volksbühnen-Volapük, das er “Wortensembles” nennt. Die Bemerkung ließ Dercon unter vielen ähnlich gekünstelten Phrasen fallen; freilich kann man sie als Teil des obligaten Bewerbungsquatschs ignorieren. Doch ist sie als Symptom interessant. Hier haben wir es nicht bloß mit einem weiteren Intendantenwechsel in einem der vielen Häuser der Republik zu tun. Im Grunde geht es um die Art, Stadt zu besehen und neu zu definieren. Oder etwas pathetisch formuliert: um die Neutralisierung des Politischen. Darum dürften da selbst Menschen aufhorchen, die mit Theater nichts am Hut haben.

Berlin als Hotel – die Einstellung ist realistisch. Ein Rudel rollender Koffer auf gepflasterten Gehwegen: that’s the sound of the city. An manchen Orten in Mitte wird nur noch selten deutsch gesprochen. Der nach Berghain und billigem Bier trachtende Easyjetset ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Stadt. Hier ist der Pop-Staatssekretär Tim Renner der richtige Mann. Kulturpolitisch ist es auch konsequent, dem weniger abgestumpften Teil der postalphabetischen Partytouristen, oder denjenigen, die vom Kuratoren am Berghain-Einlass abgewiesen werden, auch in der Volksbühne „etwas mit Licht, Technik und Körper“ anzubieten, am liebsten mit einem Dark Room ausgestattet. Aber das ist bloß der auffälligere Teil des Phänomens. Viel mehr gehören die anvisierten Kulturkonsumenten der globalen creative class an, es sind also Menschen, die sich für ein Vorlesungssemester, ein Forschungsprojekt oder Dreharbeiten in der Stadt aufhalten, ehe sie nach Tel Aviv oder Peking weiter ziehen. Für sie ist das abendliche Upgrade auf die neuesten Kulturtrends so unentbehrlich wie ein WLAN-Anschluss. Die Muße zum Herumstreifen durch die übrig gebliebenen Eckkneipen haben sie hingegen nicht, vom Deutschlernen nicht zu reden. Ihr Bezug auf die Stadt beschränkt sich auf die angesagten Locations, wo ihresgleichen verkehren. Dazu eignet sich Chris Dercon als hoppender nowhere man kongenial. Im Vergleich zu ihm erscheint Frank Castorf so antiquiert und provinziell wie der legendäre Eisenwarenladen seiner Eltern in der Pappelallee. Kurz gesagt: Wenn Berlin ein Hotel werden soll, dann kein Rokokopalast und auch keine Kakerlakenkaschemme, sondern ein funktionales, vertrautes Etablissement, das sich von anderen Filialen der globalen Kette allein durch ausgesuchte Details und Markenzeichen auszeichnet, damit einer sich versichern kann, dass er da war und nicht woanders. Als Wahrzeichen der hyperkuratierten Stadt würde sich die Volksbühne mit ihrer bewegten Geschichte, ihrer schrulligen Architektur und ihrem einprägsamen Logo besonders gut eignen. Allein der Name „Volksbühne“ ist herrlich retro. Daher ist sie für das Stadtmarketing von ästhetischen Gründen erst einmal abgesehen ein strategisches Ziel.

Ein weiterer ökonomischer Aspekt spricht für das Hotel-Modell. Die Stadt bleibt sexy aber arm. Die wirklich Reichen wohnen nicht in Berlin, sondern in München, London, Frankfurt oder Mailand. In der Hauptstadt besitzen sie nur eine Dachetage, und wenn sie dort ein Wochenende verbringen, dann um von Events und zeitgenössischer Kunst gesättigt zu werden. Da denkt der Kulturmanager nicht anders als der Rabauke: Die Kohle muss man sich herholen, wo sie ist. Es gehört also zum wirtschaftlichen Commonsense, die Kultur in den Dienst der zahlungskräftigen und aufgeklärten Hotelbesucher zu stellen. Oder wie Dercon sagt: “Kunst kann sich nicht unabhängig von Mikro- oder Makroökonomien weiterentwickeln. Das bedeutet aber auch, kein Theater ist eine Insel.“ Da rutscht man schon zum nächsten Topos über: Wer etwas vor der Durchökonomisierung retten will, zeugt von einer kleinlichen, konservativen Inselmentalität. Weil Dercon in Eigenwidersprüche fast so sehr verliebt ist, wie in sich selbst, lobt er im selben Interview den Rosa-Luxemburg-Platz als „eine der letzten Inseln, die noch nicht komplett durchgentrifiziert sind.” Vielleicht beschreibt er da genau die Funktion des Kuratoren: nach der Möglichkeit einer Insel suchen, um diese zu versenken. Alle Gentrifizierer sind gentrifizierungskritisch. Wer wäre so dumm, heute in Prenzlauer Berg zu investieren? Auf künftige Rendite kann man nur in Gegenden hoffen, die noch etwas „Ursprüngliches“ zu bieten haben. Dem Wedding etwa. Oder für die Kunst eben dem Rosa-Luxemburg-Platz.

Sind jetzt die Geister so kaputtrationalisiert, um Kultur nur noch mit Mikro- und Makroökonomien, Wachstumsfaktoren und Synergien mit den vielen Startups der Stadt zu assoziieren? Sicher ist auf jeden Fall: Hätten solche Kriterien bereits 1992 gegolten, dann hätte Frank Castorf niemals die Volksbühne bekommen. Aber damals war man noch nicht so weit. Noch war es schwierig, in Berlin ein Hotelzimmer zu finden. Natürlich erklärt sich Dercon wie all seine Kuratorenkollegen „gegen den Neoliberalismus“, und sei es nur, weil seine Existenz von Subventionen aus Stadt, Land und Bund abhängt. Aber seine Vision der kosmopolitischen Stadt ist durch und durch neoliberal. Und elitär: Die Flüchtlinge aus Syrien oder Eritrea gehören nicht dazu; für sie ist das Deutschlernen eine Bedingung der Integration. Kosmopolitisch ist die mobile, kunstaffine Klasse, die soviel Bodenkontakt und Eigengeschmack hat wie eine anorganisch kultivierte, belgische Tomate.

Wie üblich wird die unaussprechbare Anpassung an die neoliberalen Bedingungen mit kulturliberalen Tricks verkauft. Wer kann sich gegen Veränderung, Modernität und Offenheit auflehnen, wenn nicht muffige Lokalpatrioten? Bekanntlich sind Zofen und Gepäckträger immer unfreundlich und konservativ. Über die Anhänger einer weiteren Castorf-Intendanz beschweren sich jetzt die Neuankömmlinge wie über die barsche Brotverkäuferin in ihrem sonst geschätzten Kiez: Beide leisten Widerstand gegen die Modernisierung und verschanzen sich in ihrer DDR-Burgmentalität. Dabei sollten die drei Buchstaben OST nicht täuschen, die über das Haus trotzig thronen. Die meisten Geister, die im letzten Vierteljahrhundert die Volksbühne geprägt haben (Schlingensief, Marthaler, Hegemann, Pollesch, Fritsch usw.) kamen aus dem Westen. Nur hätten sie nirgendwo anders eine solche Chance gehabt, ihrer Unangepasstheit freie Bahn zu lassen. „Ost“ war einfach eine Behauptung, ein trotziges Fanal mitten in der neuen Hauptstadt.

Die offene Gesellschaft ist schön und gut, so lange sie eben eine Gesellschaft ist und keine zufällige Anhäufung von Monaden mit Rollkoffern. Im Grunde kommt alles darauf an, was man unter Kosmopolitismus versteht. Ausländer wie ich, die nach der Wende nach Berlin gezogen sind, wollten in die Stadt leidenschaftlich eintauchen, sich ihre Kultur aneignen, Teil des Umbruchs sein, der aus allen Ecken spross. Selbstverständlich gehörte die Beherrschung der Sprache dazu. Wir waren sozusagen polytheistische Kosmopoliten. Als in Altägypten Reisende in einer fremden Stadt ankamen, nahmen sie ohne wenn und aber die lokalen Gottheiten und Rituale an. Sicherlich gibt es sie heute noch und nicht zu knapp, die Ankömmlinge aus Liebe zu der Stadt, die gerne mal Eisbein mit Sauerkraut bekämen, anstatt einmal wieder die kuratierte Carpaccio-Variation. Doch was jetzt als Kosmopolitismus verkauft wird, ist furios monotheistisch. Jeder Ort wird austauschbar gemacht, jede Kunstform deterritorialisiert und homogenisiert.

Zwangsläufig generiert der abstrakte Bezug auf die Stadt eine abstrakte Kultur. Die Geschichte des deutschen Theaters von Piscator über Brecht und Müller bis hin zu Castorf war von den spezifischen Konflikten geprägt, die das Land aufwühlten. Um Einspruch gegen die liberal-kapitalistische Hegemonie zu erheben, fürchtet sich Castorf nicht, nach Schwefel riechende Geister wie Dostojewski, Malaparte, Limonov oder Céline herbei zu beschwören. Einmal von Kartoffelsalat, Theaterblut und weiteren Exzessen gereinigt, soll nun die Schauspielkunst in „performing arts“ umgewandelt und zusammen mit Tanz, Video, Installation Netzkunst und Diskursproduktion in einen sauberen Betrieb integriert werden. Voraussichtlich wird dann der Besucher zeitgemäße, relevante Abende erleben sowie interessante Auseinandersetzungen mit queer theory, critical whiteness und Akzelerationismus. Hingegen wird er die besondere Qualität vergeblich suchen, die der Volksbühne bis dato ausmachte: die Widerspenstigkeit. Haustheoretiker Carl Hegemann pflegte zu behaupten: „Das Theater kann nur gerettet werden, indem man es abschafft.“ In diesem Sinne kann man sagen, dass die Volksbühne ihre eigenen Totengräber produziert hat. Dafür ist ein Ende des derconisierten Betriebs so schwer vorstellbar, wie ein Ende des Kapitalismus.

 

 

 

 

 

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