Alles für die Katz

Again comes the rising of the sun

Another day when we’ve begun
The unfinished chores of yesterday

„Merken Sie sich: Das, was uns als überlegene Wesen der Schöpfung kennzeichnet, ist unsere Fähigkeit, drei Schritte rückwärts zu machen, um Schwung zu holen und ein Hindernis zu überspringen.“ So dozierte vor hundertzwanzig Jahren ein bärtiger, zwickertragender Professor vor einem begeisterten Auditorium. „Diese Fähigkeit heisst Zweckrationalität. Sie lässt sich am Besten mit dem Umweg der Produktion veranschaulichen. Ein Naturvolk, das sich von der Hand in den Mund ernährt, wird von Knappheit und Unsicherheit geprägt und geplagt. Wir Zivilisierte haben diesen Zustand überwunden, indem wir einen Umweg zu machen wissen. Es wird gepflügt, gesät und geerntet, das heißt: Die Befriedigung wird temporär verschoben, um in einem größeren Ausmaß gesichert zu werden.“ Dieser Rede zollte das Publikum heftigen Beifall. Alle waren für die weltliche, rationale und fortschrittsoptimistische Erklärung dankbar. Nein, die Arbeit war kein Fluch, sondern ein Segen, keine göttliche Strafe, sondern selbsterrungene Nobilitierung. In ihrem Enthusiasmus merkten sie nicht, wie anachronistisch das Argument eigentlich war. Wie Bauern sahen sie nicht aus, die vornehmen Zuhörer. Ihr Geschlecht hatte sich längst von der Scholle emanzipiert, sie waren alle Geschäftsleute, Ingenieure, Notare. Ohnehin waren im Lande immer weniger Menschen mit der Nahrungsmittelgewinnung beschäftigt. Und doch wähnten sich alle in jener imaginären Agrarwelt, wo man ackern muss, um sein Brot zu verdienen.

We set about to find our way
We always finish and begin
We go through life until the end

„Mein Sohn, du wirst von mir ein schönes Vermögen erben“, sagte der sterbende Finanzier. „Dafür musst du wissen, was dein Vermögen vermag. Vermehrst du es nicht, dann verlierst du es. Damit es sich vermehrt, muss aber dein Geld einen Umweg machen. Es muss sich in Waren umwandeln, die sich wiederum in mehr Geld, und in mehr Waren, und in noch mehr Geld umwandeln, in einer endlosen Metamorphose, einer sich beschleunigenden Spirale, einem Wachstumszyklon, der alles, Mensch und Tier, Wasser und Luft, Himmel und Erde, Wirklichkeit und Traum, Geschlecht und Charakter, Ornament und Verbrechen mitreißen wird. Die Warenwelt ist die wahre Welt. Alles andere ist Schein und Trug. Lass die Beschäftigten glauben, sie leisten etwas Nützliches. Rede ihnen ein, dass du wie sie nur deinen Job machst. Sei blind, sei taub, erlass keine Schuld. Denk nur an dich. Du bist allein mit der Gottheit. Du bist der Alchemist, der aus Kot Kapital macht. Du bist der Träger jener ungeheuren Kraft, die keine Rast, keine Sicherheit und vor allem: kein Ende kennt. Fürchte nicht den Tod, dein Geld lebt ewig. Ewig. Ewig. Ewghhhh.“

And here are the things we do
We build it up, and tear it down
We start all over, and make it round

Lässig räkeln sie sich auf dem Sofa und umklammern sich und lecken sich gegenseitig. Sie schlafen einen langen, traumreichen Schlaf. Danach rennen sie raus. Springen nach einem Schmetterling. Klettern auf einen Baum. Gelegentlich fangen sie eine Spitzmaus, das aber nur aus Spiel. Ihr täglicher Essbedarf wartet ja im Napf. Katzen haben ein langes Gedächtnis. Sie wissen, wie es ihren Vorfahren erging. Ständig auf der Suche nach einer hypothetischen Beute. Im Regen und Frost zitternd. Von Feinden bedroht. Abgemagert. Krank. Verkrüppelt. Zum Glück ist die Urzeit längst vergangen. Heute ist ihre Umwelt äußerst freundlich und zuvorkommend. Werden sie krank, kommt der Tierarzt. Wird es kalt, legen sie sich auf den Heizkörper. Die Nahrung ist sicher. Sie haben nichts anderes zu tun als kuscheln, spielen, sich gegenseitig lecken. Sie leben länger und sterben einen sanften Tod. Der Kampf ums Dasein ist vorbei. Stolz sind die Katzen, die Evolution in die eigenen Pfoten genommen zu haben. Sie schnurren: „Wie schön, dass wir die Menschen domestiziert haben!“

We can make it short, make it long
Before we know it, the time is gone

„Drei Schritte rückwärts macht der arbeitende Mensch, das stimmt schon“, meinte Ivan Illich lachend, „doch während dessen dreht er sich um und verliert sein Ziel aus den Augen, sodass seine Drehbewegung zum Selbstzweck und der Umweg zum Irrweg wird.“ Illich hatte errechnet, wie viel Arbeitszeit einem durchschnittlichen Städter nötig war, um sich ein Auto zu leisten, also um Raten, Versicherung, Benzin, Reparaturen, Parkgebühren und Einiges mehr zu bezahlen. Das Ergebnis war erschütternd: Vier Stunden am Tag wurde allein dafür malocht. Diese Arbeitszeit addierte Illich zur tatsächlichen Fahrzeit, um auf eine Art Geschwindigkeit zu kommen, die er „Realgeschwindigkeit“ nannte. Sie betrug knappe sieben Kilometer pro Stunde! Das heißt, egal wo er hin fährt, wie oft er fährt, und was er für ein Modell besitzt, real wird sich der Autofahrer kaum schneller als zu Fuß bewegen. Deprimierender noch die Tatsache, dass er sein Auto zum größten Teil nutzt, um zur Arbeit zu fahren oder vor seiner Arbeit zu flüchten. Um diese verborgene Tatsache zu beschreiben, prägte Illich ein Wort, das in die Umgangssprache eingegangen ist: Kontraproduktivität. Kontraproduktiv wird eine Handlung, wenn über eine kritische Schwelle hinaus die Menge des Aufwands das Ziel zunichte macht, wofür er zuwege gebracht wurde. Zum Beispiel: Sich täglich eine Stunde auf dem Hometrainer quälen, um eine hypothetische Viertelstunde Lebenszeit zu gewinnen.

But tomorrow is always another day
Yes we keep going the same old way

Mitleidig beobachten die Katzen ihre Diener. Sie wissen : Auch die Menschen waren früher von Unsicherheit geplagt und Gefahren umringt. Auch sie haben sich bemüht, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Doch ist ihr Ringen nach Erlösung seltsam gescheitert. Am Ende des langen evolutionären Wegs sind sie so unruhig, ängstlich und traurig wie sie am Start waren. Immer versuchen die Menschen, ihre Katzen nachzuahmen. Sie bauen sich Diener, die sie Roboter nennen, und träumen davon, die Haustiere dieser Diener zu werden. Doch sobald die Roboter ihnen alle mühseligen Aufgaben abnehmen, werden sie unglücklich und depressiv. Die angestrebte Lösung wird plötzlich zum Problem. Anstatt sich auf den faulen Pelz zu legen, machen sie noch mehr Stress und Hektik. Wenn sie sich am Ende des Tages erschöpft in einen Sessel fallen lassen, springen die Katzen auf ihren Schoß und lassen sich von ihnen streicheln. Sie wissen die zerbrechliche zweibeinige Kreatur zärtlich zu behandeln. Sehnsüchtig beobachten die Menschen ihre Katzen.

But again comes the rising of the sun
Another day when our work has begun
We look for the better things in life

Zweifellos hat sich seit Illichs Zeiten – den 1970er Jahren – die Zahl der kontraproduktiven Tätigkeiten enorm erhöht. Wir sind jetzt fast an dem Punkt angelangt, wo das energetische Äquivalent von einem Liter Erdöl nötig ist, um einen Liter Erdöl zu fördern. Dennoch hilft heute die Beweisführung der Absurdität nicht weiter. Noch setzt sie voraus, dass es ein Ziel gäbe, das den Vorgang transzendieren würde. Dieses ist aber nicht mehr gegeben. Es ist zum Beispiel nicht mehr wichtig, zu wissen, wie lange die tatsächliche Fahrzeit dauert. Hauptsache man hat währenddessen Zugang zur parallelen Virtualität. Angeschlossen sein ist alles. Wie Zizek meint: Wir kaufen heute nicht so sehr Produkte als vorgefertigte Lebenszeitabschnitte: die körperliche Tätigkeit im Fitnessstudio etwa, den Zugang zur Musik über Spotify oder das eigene Image in angesehenen Clubs. Produkte und Dienstleistungen sind bloß Meilensteine eines einheitlichen Lebenswegs. Gearbeitet wird also nicht mehr, um etwas zu erreichen, das jenseits der Arbeit wäre, sondern damit ein Lebensstil produziert wird – das heißt, sowohl reproduziert als auch fortwährend transformiert. Der Umweg ist das Ziel.

Seeking to find an answer day and night
Always studying and planning to make a profit
And in the end we sometimes wonder if it’s worth it

Regelmäßig nahmen die Bewohner von Tenochtitlán einen jungen Menschen auf die Pyramide. Sie stachen ihm ein Obsidianmesser in die Brust, rissen das noch schlagende Herz heraus und hielten es zur Sonne empor. Die Azteken handelten nicht aus grausamer Lust; es mag gut sein, dass ihnen die schrecklichen Tötungen absolut widerwärtig waren. Nur waren sie der festen Überzeugung, dass das Opfer notwendig wäre, damit die Sonne zu leuchten nicht aufhörte. Ein Verzicht hätte sie in Finsternis gehüllt. Georges Bataille kommentiert: „Die Verzehrung spielte in ihrem Denken keine geringere Rolle als in unserem Denken die Produktion. Sie waren ebenso bestrebt zu opfern, wie wir bestrebt sind, zu arbeiten.“ Das Menschenopfer war ein unumgänglicher weil effizienter Sachzwang. Nachweislich funktionierte das Ritual: Am Morgen danach ging doch die Sonne auf! Ebenfalls herrscht heute die Überzeugung, dass die Opferung unserer vitalen Energien auf der Pyramide des Marktes unumgänglich ist. Der beste Beweis dafür: Jeden Morgen geht alles weiter.

And again comes the rising of the sun.

„Against comes the rising of the sun“ aus: Albert Ayler, The last Album, Impulse records, 1970.

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