Das Leben der Wörter

liebe

Um die Liebe ist es schlecht bestellt. Das ist keine subjektive Behauptung von mir, sondern das Ergebnis einer Suche bei Ngram Viewer. Trotz aller Vorwürfe gegen Google, ich muss zugeben, dass diese Funktion wirklich spannend ist. Ngram sucht chronologisch nach der Häufigkeit eines Wortes im Corpus aller Bücher, die in Googlebooks gespeichert sind, Belletristik wie Sachbücher. Wenn man also dort nach der Liebe sucht, stellt man fest, dass diese seit der Hochzeit der Romantik ständig abgenommen hat. Unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg schien sich zwar die Liebe zu erholen, doch ging es dann schnell wieder bergab. Der historische Tiefstand der Liebe wurde 1974 erreicht, seitdem stagniert sie kläglich. Im Gegensatz dazu ist Ficken besonders seit den Spätachzigern exponentiell gewachsen, doch dürfte das niemand überraschen.

Natürlich sagt uns die Frequenz einer Vokabel nichts über ihre Verwendung. Wenn zum Beispiel das Wort „Volksgemeinschaft“ heute so häufig gedruckt wird wie im 1939, hat das nicht mit der Permanenz der NS-Ideologie zu tun, sondern mit deren historischen Verarbeitung. Trotzdem ist es aufschlussreich zu sehen, wie ein Begriff ganz gleich in welchem Kontext aus dem allgemeinen Wortschatz verschwindet. So konnte ich eine Intuition von mir statistisch belegen, nämlich unsere verlorene Ehre. Alle bisherigen Kulturen hatten einen Begriff der Ehre. Die meisten Menschen der Vergangenheit empfanden sie als zentraler Wert ihres Daseins. Heute ist die Ehre so gut wie extinkt. Hier der erschütternde Nachweis:

ehre

Wie ist es mit der berühmten german Angst? Wir sehen, dass sie 1800 bis 1900 ständig abbaute. Mit den Weltkriegen und Krisen erreichte dann die Angst sukzessive Höhepunkte. Bis in die frühen sechziger Jahre ist eine deutliche Beruhigung bemerkbar (Wirtschaftswunder!), dann geht es wieder hoch. 1973 wird der Angstpegel von 1944 wieder erreicht. Der Steigflut der Angst setzte sich fort, und selbst wenn sie seit den Spätneunzigern ein wenig abnahm, ihre Frequenz bleibt heute viel höher als jemals im 20. Jahrhundert.

angst

Besonders interessant ist die Fluktuation von Wörtern, von denen wir annehmen würden, dass sie ein unersetzlicher Bestandteil unserer Sprache seien. Zum Beispiel Personalpronomen. Die Kurve des Ich zeigt merkwürdige Variationen. Um 1920 erlebt das Ich eine deutliche Steigerung, um dann in der frühen Nazizeit in einen historischen Tiefstand zu fallen. Während des zweiten Weltkrieges wird Ich wieder sehr präsent, um 1948 existentialistisch zu kulminieren. Danach ist ein deutlicher Verlust des Ich bemerkbar. 1974 ist es  niedriger noch, als zu Hitlers Machtergreifung. Die Kurve geht dann wieder egozentrisch nach oben, wobei seit dreißig Jahren eine gewisse Stagnation des Ich unleugbar ist.

ich

Mit Wir verhält es sich anders. Da scheint der historische Niedergang unaufhaltsam. So wenig Wir wie heute gab es noch nie. Die Interpretation dieses Phänomens sei dem Leser überlassen.

wir

Eine Antwort auf “Das Leben der Wörter”

  1. Herr Schmidt

    > Mit Wir verhält es sich anders.
    > Da scheint der historische Niedergang unaufhaltsam.
    > So wenig Wir wie heute gab es noch nie.
    > Die Interpretation dieses Phänomens sei dem Leser überlassen.

    Hallo
    Ich denke, das jeder erst mal für sich selbst erkennen muss, was Wichtig und von Bedeutung ist, bevor WIR UNS dann daran wagen, was für ALLE Wichtig und Bedeutungsvoll sein könnte.

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