Frankreich-Chronik, 1. April – 10. Mai 2016

Ich war in Deutschland fast der einzige, der Nachrichten über die Proteste gegen das Arbeitsgesetz und die Nuit-Debout-Bewegung in Echtzeit veröffentlichte. Darauf bin ich nicht stolz, viel mehr wütend über die Nachrichtensperre der Medien. Da ich die Meldungen über Facebook verbreitete, ein flüchtiges Medium,  sind hier einige wiedergegeben.

23. März.

Wie zahlreiche Gymnasien wird  das Pariser Lycée Bergson von protestierenden Schülern besetzt. Dieses Vidéo verbreitet sich viral übers Netz. Es zeigt, wie brutal Polizisten gegen die Jugend vorgehen und wird für Empörung und Gegenwehr sorgen.

1. April.

Paris gestern. In ganz Frankreich haben hunderttausende Arbeiter, Studenten und Schüler gegen die Pläne der sozialdemokratischen Regierung demonstriert, eine Art Agenda 2010 à la française durchzuboxen. In den letzten Wochen wurden insbesondere die streikenden Gymnasiasten einer selbst für Frankreich ungewöhnlichen Polizeibrutalität ausgesetzt. Wie man sieht, haben sie schnell gelernt, sich zu wehren. Endlich erhält das Wort “Radikalisierung” seine richtige Bedeutung wieder. Der Frühling könnte heiss werden.

https://www.youtube.com/watch?v=-DQIPCPbWYg&app=desktop

4. April.

Stand der (stattfindenden oder für diese Woche geplanten) Platzbesetzungen in Frankreich. In den deutschen Leitmedien noch keiner Zeile wert.

https://framacarte.org/de/map/nuitdebout_2186#6/48.166/7.273

7. April.

Die Bewegung der nächtlichen Platzbesetzungen breitet sich in vielen französischen Städten aus, auch in Bruxelles und den fernen Inseln von La Réunion und Guadeloupe. Weiterhin kein Thema in hiesigen Medien. Hier eine zusammenfassende, aktualisierte Fb-Präsenz:

https://www.facebook.com/NuitDebout/

Und tagsüber, Burn Out general:

9. April.

Szenen der Stadtguerilla:

15. April.

Langsam beginnen die deutschen Medien, wahrzunehmen, dass seit drei Wochen etwas Ungewöhnliches westlich des Rheins geschieht. Da jedoch Böhmermann viel wichtiger zu sein scheint, muss man trotzdem die Berichterstattung selbst übernehmen.

Gestern Abend sagte Hollande (87% negative Meinungen in der letzten Umfrage) im Fernsehen: „Die Jugend ist immer unzufrieden und es ist gut so“. Um diese Unzufriedenheit zu nähren, hatten während des Tages seine Polizisten Demonstranten in Paris, Nantes und Montpellier kräftig geprügelt. Auch in Toulouse kam es zu Zusammenstößen, als der Präsident des Arbeitgeberverbands einen Vortrag über „die Einsamkeit des Unternehmers“ halten wollte! In derselben Sendung bekräftigte Hollande seine Entschlossenheit, das Arbeitsgesetz durchzusetzen. Daraufhin beschlossen um die 500 Teilnehmer der Nuit Debout, etwas wagemutig den Elysee-Palast zu stürmen. Sie zogen durch die Nacht, einige Schaufenster gingen kaputt (wobei die Mehrheit der Demonstranten dagegen war) ehe sie von der Polizei angehalten wurden. Heute ist ausnahmsweise keine Demo in Paris geplant, sondern ein „Riesenfestessen gegen die Repression“. Man muss wohl seine Kräfte regenerieren.

Mitunter haben sich die Platzbesetzungen weiter verbreitet. Es sind jetzt weit über hundert Städte, auch kleine Kaffs und Banlieues, in denen eine „Nuit debout“ angekündigt wird (siehe Karte und Links im Kommentar). Laut Polizei wurde am letzten Wochenende die Pariser „Nuit debout“ von 20000 Menschen besucht. Bemerkenswert ist die totale Abwesenheit von Wortführern so wie offiziellen oder selbsternannten Vertretern. Auch die Intellektuellen sind unhörbar, mit der Ausnahme vom Spinozisten Frédéric Lordon, der das Volk überzeugen will, eine neue Konstitution zu schreiben. Ebenfalls werden KPF, Linkspartei und sonstige Splittergruppen von der generellen Absage an die Parteipolitik nicht ausgenommen.

Dafür beginnt die Reaktion, laut zu werden. Marine Le Pen ruft nach Auflösung der Nuit Debout (es ist auch ein Verdienst dieser Bewegung, bloßzustellen, wie es mit der Sorge der Rechtspopulisten um das Los der Arbeitnehmer tatsächlich steht). Ihr machen die Konservativen nach und fordern, dass die Regierung „die Hofpause abpfeift“. Das hätten die Sozialisten gern, bloß zu welchem Preis? Jedenfalls ist der März noch nicht vorbei. Nach neuer Zeitrechnung haben wir heute den 46. März. Walter Benjamin hätte es gefreut, dass die heutigen Rebellen kein „Jahr eins“ ausrufen, sondern einen Monat ewig verlängern wollen. Der Griff zur Notbremse.

17. April

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Peace, Love und Knüppel. Ein symbolhaftes Bild. Einerseits versammeln sich “Nuit debout” wirklich überall, auch in Dörfern, von denen ich noch nie gehört hatte – doch mangels konkreter Perspektiven, laufen sie Gefahr, sich tot zu reden ; andererseits eskaliert die Gewalt zwischen Polizei und Randalierern, die dabei hoffen,Tatsachen zu schaffen, sich aber tendenziell vom debattierenden Teil der Bewegung abspalten. Peace, Love und Knüppel. Allein ein Generalstreik könnte eine Zersplitterung verhindern, doch ist diese Option ziemlich unwahrscheinlich. Nächster gewerkschaftlich organisierter Aktionstag findet erst am 29. April statt. Mit einem unmittelbaren Ergebnis ist also kaum zu rechnen. Wohl aber mit einer langfristigen Wirkung. Wenn Zehntausende sich begegnen und einen gemeinsamen Geist entdecken, ist bereits etwas Außerordentliches erreicht.

21. April

Und weiter geht’s. Hier gestern in Rouen. Ungesponserte street art gegen die Banken:

25. April.

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Für die französische Bewegung wird dieser Donnerstag 28.4. wahrscheinlich zur Stunde der Wahrheit. Die Gewerkschaften haben einen einzelnen Streiktag angekündigt, doch an der Basis werden die Rufe lauter, diesen in einen unbefristeten Generalstreik zu verwandeln. Es kursieren verschiedene Pläne für einen Zusammenschluß der Streikenden mit den Nuit-Debout-Versammlungen am Ende der geplanten Demonstrationen. Außerdem wird innerhalb der Nuit Debout dazu aufgerufen, sich nicht mehr an die Vorgabe der Polizei zu halten. Bisher werden die Kundgebungen Tag für Tag angemeldet und um Mitternacht geräumt. Ab Donnerstag sollen die Plätze permanent besetzt bleiben. Die Proximität des 1. Mai lässt ohnehin ein langes, aufrührerisches Wochenende erwarten.
Frei nach der viel gelesenen Broschüre “Der kommende Aufstand” zirkulieren auch Vorschläge, um Vetriebsknotenpunkte zu blockieren (also Ausgänge von Riesenhallen à la Amazon), damit der Warenfluss effektiver unterbrochen wird.
Schließlich wird versucht, die Jugend aus den Banlieues miteinzubeziehen, bisher ohne richtigen Erfolg.
Unterdessen wurde bekannt gegeben, dass die Einsatzpolizei CRS begonnen hat, Scharfschützen auszubilden, um im Notfall gegen radikale Demonstranten zu schießen….

26. April.

Auch das eine interessante Aktionsform: Nuit Debout Grenoble veranstaltet ein wildes Picknick in einem Supermarkt. Da nichts gestohlen, sondern “gekostet” wird, soll das sogar legal sein. Fragt sich nur, weshalb die Leute Cola und Fanta statt Château-Lafitte und Pomerol trinken. Ja, ich weiss doch, um gegen Monsanto und Nestlé zu protestieren. Aber gegen die Bordeaux-Großwinzer ließe sich auch Einiges sagen.

28. April.

Die Lage am Mittag:
Blockade des Hafens von Genevillers (größten Hafen im Pariser Ballungsraum). Über hundert Festnahmen. Demonstration vor der dortigen Polizeistation. Totale Blockade der Stadt Le Havre sowie der Industriezone Amiens-Nord und mehrerer Ölraffinerien und Tanklagern. Besetzung des Odeon-Theaters und der Comédie Française durch die prekären Kulturarbeiter. Besetzung der Kinoschule La Fémis. Besetzte Gymnasien in ganz Frankreich (obwohl gerade Frühlingsferien sind). Unbefristeter Streik in der Bosch-Fabrik von Vénissieux. Alle Großdruckereien streiken (keine Zeitung erschien heute), auch die Beaubourg-Bibliothek und die Belegschaft im Pariser Rathaus. Viele Züge fahren nicht, einige Bahnhöfe sind geschlossen.
Um 14 Uhr gehen überall Demonstrationen los. Ab 18 Uhr soll der Platz der Republique permanent besetzt werden.

Die Lage am Abend:
Wieviele Menschen demonstriert haben, bleibt wie immer umstritten. Eine halbe Million wurde zuerst angegeben. Aus offiziellen Stellen werden jetzt 170000 genannt. In Paris und mehreren Städten kam es zu heftigen Zusammenstößen mit der Polizei. Von “Ausschreitungen” kann kaum die Rede sein, weil wie es scheint, war die gewöhnliche Kluft zwischen “gewaltbereiten Demonstranten” und “friedlichen Gewerkschaftern” nicht so eindeutig wie sonst. Schwerverletzte gibt es auf beiden Seiten, die Zahl der Festnahmen ist vorerst unklar. Momentan wird das Odeon-Theater polizeilich geräumt. Ungewiss ist zudem, wieviele Demonstranten sich jetzt zur permanenten Besetzung des Platz der Republik begeben. Nach einer Verlängerung des Generalstreiks wird vielerorts aufgerufen, doch ob diese gelingt, bleibt abzuwarten. Der nächste angemeldete Protesttermin ist am Sonntag 1. Mai. Mal sehen, was bis dahin passiert.

30. April.

Nicht Gezi-Park, sondern Place der Republik, keine faschistische Diktatur, sondern sozialdemokratische Polizeimaßnahme. Empört euch. nicht. Die Ordnung herrscht.

http://videos.leparisien.fr/video/evacuation-musclee-de-nuit-debout-place-de-la-republique-a-paris-29-04-2016-x47o7k2

2. Mai.

Da die Frankreich-Korrespondenten ihren Job immer noch nicht machen, muss ich ein weiteres Update schreiben, obwohl ich Anderes zu tun hätte und dieses Mal die Nachrichten nicht besonders erfreulich sind.

Mit der fürs letzte Wochenende angekündigten Vertiefung des Protests, war zu erwarten, dass die Repression zunehmen würde. Unerwartet ist aber der Ausmaß der Repression. Das hat man seit Jahrzehnten nicht erlebt, auch nicht während der heißen Tagen des Mai 68 (der Polizeipräsident von damals wusste, seine Truppen zu zügeln). Die Szenen, die sich am 28.4. und 1.5. abgespielt haben, kennt man eher aus Istambul oder Moskau (und darüber wird -zurecht- ausführlich berichtet, was die Doppelstandards hiesiger Medien noch einmal deutlich macht). Dafür kuriseren im Netz genügend Augenzeugenberichte und Videos. Hier seien nur einige Beispiele erwähnt:
- Schläge und Tritte gegen Festgenommene in Handschellen
- Systematischer Einsatz von Flashballs (“nicht-tödliche” Handfeuerwaffen). In Rennes hat dadurch ein 20jähriger Student ein Auge verloren.
- Tränengas von Hubschraubern herab geschossen.
- Einsatz von Blendschockgranaten, um Demonstrationszüge zu zersplittern,
- Sporadische Unterbrechungen der 1. mai-Gewerkschaftsdemo, Einkesselung von Teilen derselben (der Premierminister wirft den Gewerkschaften vor, sich vom vermeintlichem “Black Block” nicht effektiv distanziert zu haben, doch offenbar gab es einen solchen Block gar nicht).
- Polizeiübergriff in einer Métro-Station. Pendler und Demonstranten werden undifferenziert begast und geschlagen. Eine Massenpanik folgt. Die Erinnerungen vom Métro Charonne werden wach, als 1962 infolge eines ähnlichen Übergriffs 7 Menschen starben.
- Sanitäter berichten: Unsere Arbeit ähnelt immer mehr der Kriegsmedizin.
- Zudem beginnen jetzt die Prozesse im Schnellverfahren gegen Arbeitnehmer so wie Abiturienten, die an Blockaden teilgenommen haben. Zwei wurden heute zu 6 resp. 5 Monaten verurteilt.

Ein Nachrichtenportal versucht, die Entfesselung der Polizeigewalt dadurch zu erklären, dass eine Mehrheit der Robocops Le-Pen-Anhänger sind. Doch ohne Regierungsanweisung hätten sie sich niemals solche Regelbrüche erlaubt. Wer braucht schon Rechtsextreme mit solchen Sozialisten? Aber wie meinte Talleyrand? Man kann mit einem Bajonett alles machen, nur nicht darauf sitzen.

3. Mai.

“Nuit debout ist vorbei, Nuit debout liegt steif am Boden, noch bewegt sie sich, aber es sind die letzten Spasmen einer Leiche” – frohlockt der reaktionäre Journalist Eric Zemmour heute früh auf RTL.

Bild: Sieben mutige Ordnungshüter überwältigen einen gefährlichen Physik-Doktoranden der Ecole Normale Supérieure.

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10. Mai
Wiederholte Umfragen zeigen, dass dreiviertel der Franzosen das geplante Arbeitsgesetz ablehnen. Seit über zwei Monaten wird dagegen demonstriert und besetzt. Die Sozialisten haben mit Tränengas, Flash Balls und Inhaftierungen geantwortet.

Jetzt die neue Episode: Selbst im Parlament findet sich keine Mehrheit, um das Gesetz zu verabschieden! Viele PS-Abgeordneten haben inzwischen begriffen, dass eine Ja-Stimme ihrem politischen Selbstmord gleichkäme.

Was macht also Hollande, der Präsident mit den armseligsten Beliebtheitswerten seit Entstehung der Republik? Heute griff er auf den Verfassungsartikel 49-3 zurück, welcher die Regierung erlaubt, ein Gesetz ohne Parlamentsvotum durchzusetzen. (als er in der Opposition war, wetterte Hollande gegen dieses antidemokratisches Mittel, doch hat er es letztes Jahr bereits verwendet, um ein erstes neoliberales Paket, das Macron-Gesetz, durchzuboxen). Dem Parlament bleibt nur noch die Möglichkeit, per Misstrauensvotum die Regierung zu stürzen. Unwahrscheinlich ist, dass genug sozialistische Abgeordneten den Schritt wagen werden.

Also diktiert eine de facto Minderheitsregierung ihre unerwünschte Politik per Dekret und knüppelt ihre Opponenten nieder. Das in der Wiege der modernen Demokratie. Die Folgen mögen spannend sein. Gleich versammelt sich eine große Demonstration vorm Parlament.

 

 

 

 

 

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