Verteidigung ist die beste Anklage

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Vom 4. bis zum 9. Mai werde ich die Ehre haben, im Kapitalismustribunal zu Wien für den Kapitalismus zu plädieren. Hier folgt meine  Verteidigungsstrategie.

Gewissermaßen ist jeder Prozess ein Schauprozess. Einer Gerichtsverhandlung ist viel Theatralisches eigen, die Disposition des Saales etwa, die Roben und Perücken, die Effekthascherei, die Dramaturgie der Entscheidungsfindung. Der Staatsanwalt besetzt die Staat-Rolle, die Geschworenen die Volk-Rolle, der Richter die Justiz-Rolle. Alles funktioniert im Als-ob-Modus. Verhandelt wird, als ob aus der Gegenüberstellung von belastenden und entlastenden Aussagen so etwas wie „die Wahrheit“ zutage treten könnte. Verurteilt wird, als ob die Strafzumessung „der Gerechtigkeit“ entspräche. Es waren im antiken Griechenland die Sophisten, die die prozessuale Rhetorik der Plädoyers und Anklagereden entwickelten. Sie ließen sich dafür teuer bezahlen. Damals bereits neigte die Waage der Justiz dazu, in Richtung des schwereren Geldes auszuschlagen. Gerade als Reaktion gegen die Sophisten war die Philosophie entstanden, gegen die Vorstellung, dass die Wahrheit nach Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Doch nach wie vor verbindet das Theater mit der Justiz (sowie mit der Politik) der Umstand, dass innerhalb dieser Sphären die Trennung zwischen Wirklichkeit und Darstellung nicht aufrecht erhalten werden kann.

Vordergründig wird das schauspielerische Element, wenn ein Gericht über die Gewalt nicht verfügt, eine Strafe zu verhängen oder ein Urteil vollziehen zu lassen. Musterbeispiel dafür war das Vietnam War Crimes Tribunal, das 1967 von dem Philosophen Bertrand Russell aufgerufen wurde. Das Russell-Tribunal war eine öffentlichkeitswirksame Inszenierung. Sie entsprach dem damals üblichen Selbstverständnis des engagierten Intellektuellen als öffentlicher Ankläger – J’accuse! Der Ausgang war vorbestimmt, eine kontradiktorische Vernehmung fand nicht statt, kein Inkriminierter hielt es für nötig, einen Verteidiger hinzuschicken. Dabei ermöglichte der fiktive Rahmen eine Aufdeckung des Realen: die präzise, sachkundige Beweisaufnahme für Kriegsverbrechen der US-Armee in Vietnam. Das Tribunal, darin bestand seine skandalöse Schlagkraft, war ein umgekehrtes Reenactment der Nürnberger Prozesse, indem die Ankläger von damals jetzt auf der (imaginären) Anklagebank saßen und die von ihnen erstellten Straftatbestände selber zu verantworten hatten: Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gar Genozid. Den späteren Russell-Tribunals (über Menschenrechtsverletzungen in Südamerika, Südafrika, Palästina, der BRD) fehlte diese symbolische Brisanz, daher verblassten sie zu folgenlosen Politevents.

Wie steht es jetzt um das „Kapitalismus-Tribunal“? Natürlich haben wir es ebenfalls mit einem symbolischen Verfahren zu tun. Das Theatralische wird gar bewusst in Anspruch genommen. Hier auch geht es darum, mittels des Gespielten an das Ernsthafte, mittels der Fiktion an das Reale zu kommen. Dennoch besteht ein wesentlicher Unterschied zum Russell-Tribunal. Damals waren die Angeklagten klar definiert: das Weisse Haus und das Pentagon. Und der Gegenstand des Prozesses war eindeutig eingerahmt, es ging um Kriegsverbrechen, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort begangen worden waren. Anders im Kapitalismus-Tribunal. Um es ohne Umschweife zu sagen: Wir werden hier mit einer logischen Inkonsistenz konfrontiert. Einerseits wird die Frage gestellt, ob „der Kapitalismus ein Verbrechen“ sei, andererseits wird versucht, die „Schuld des Kapitalismus“ zu bestimmen. Das heisst, dass Prozessgegenstand und Angeklagter, Tat und Täter identisch sind! Wir werden ersucht, die schwierige Frage zu lösen, ob der Kapitalismus am Kapitalismus schuld ist. Eine Tautologie, gewiss, aber das ist nicht weiter schlimm. Die Ob-Frage ist eine rein rhetorische. Ein Freispruch wird von niemandem erwartet, ohnehin steckt bereits ein Urteil drin, wenn man das K-Wort und nicht „freie Marktwirtschaft“ sagt. Wichtig ist nicht das Ob sondern das Wie, nicht die Urteilsverkündung sondern der Weg dahin.

Was ist denn dieser Kapitalismus, dem der Prozess gemacht wird? Wie wir wissen, kann er unter viele Kategorien gefasst werden: ein System, eine Ordnung, eine Logik, eine Weltanschauung, eine Epoche (nebenbei gesagt: In seinem ganzen Werk hat Karl Marx kein einziges Mal das Wort „Kapitalismus“ geschrieben, er hatte es einfach nicht nötig). Das Ziel des Tribunals ist gerade, das Abstraktum zu veranschaulichen. Im Gerichtssaal erscheint die mannigfaltige Gestalt in Form von Anklagen, die vom allgemeinen Publikum erstellt worden sind. Der Kapitalismus wird also durch die Summe der Anklagen gegen ihn definiert, besser gesagt rekonstituiert. Mit einem Beschwerdekatalog werden zugleich ein Phantombild des Täters erstellt und der Tatbestand beschrieben. Natürlich kann das Profil nur unvollständig sein. Die Zahl der Zeugen und Ankläger kann nicht dem Ausmaß des Phänomens gerecht werden (und das selbst wenn die Reichweite des Verfahrens auf den „europäischen Kapitalismus“ begrenzt wird, in der globalisierten Welt ohnehin eine ziemlich unmögliche Einschränkung). Doch können wir davon ausgehen, dass genug Belastungsmaterial zusammen kommen wird, wie repräsentativ auch immer.

Die Aufgabe des Tribunals besteht darin, die Realität der Einzelklagen zu prüfen (darin liegt die „faire Behandlung“) und darüber hinaus ein generelles Urteil auszusprechen. Dieses erfolgt also durch die Hintertür. Direkt wird nicht „der Kapitalismus“ angeklagt, sondern eine möglichst große Anzahl von Protagonisten, es sind laut Satzung „Konzerne, staatliche Institutionen und Personen des öffentlichen Lebens“. Ich möchte argumentieren, dass gerade in dieser indirekten Urteilsfindung das dynamische Potenzial des Verfahrens liegt. Voraussichtlich werden die direkten Klagen nicht so sehr über ihren Gegenstand Auskunft geben, als über die Klagenden selbst. Es wird sich ein Meinungsbild der zeitgenössischen Unzufriedenheit ergeben. Womöglich werden wir von unvermuteten Missständen und Gaunereien erfahren, aber im Großen und Ganzen sind halbwegs informierten Bürgern die Beschwerdegründe bereits bekannt. Die eigentliche Aufgabe besteht in der Überführung der einzelnen Anklagepunkte in eine generelle Verurteilung. An dieser Übergangsstelle setzt die Verteidigung ein und zwar: um den scheinbar evidenten Verlauf zu stören.

Die Verteidigungsstrategie des Bruchs (défense de rupture) wurde von dem französischen Rechtsanwalt Jacques Vergès theorisiert und praktiziert. Damit ist die Weigerung gemeint, sich auf das heimliche Einverständnis einzulassen, die das konventionelle Plädoyer kennzeichnet, nach dem Muster: Mein Mandant ist unschuldig, außerdem hatte er eine schwere Kindheit, trank, wurde von seiner Frau betrogen usw. In der Strategie des Bruchs geht es nicht darum, die Schuld des Angeklagten sondern die Unschuld der Ankläger zurückzuweisen. Anfangs seiner Karriere verteidigte Vergès algerische Unabhängigkeitskämpfer wie folgt: Ja, mein Mandant hat eine Bombe gelegt, das tat er als Soldat einer Befreiungsarmee; dafür ist dieser Gerichtshof Teil des kolonialen Unterdrückungsapparats und als solcher unfähig, ein unbefangenes Urteil zu treffen! Das Plädoyer wurde zur Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, es erregte internationale Aufmerksamkeit und rettete nebenbei einige Angeklagte vor der Guillotine. Mit derselben Strategie würde Vergès später Bösewichte wie Milosevic, Carlos oder Klaus Barbie verteidigen. Jeder Prozess ist ein Drama, meinte er, dessen Aufführung allein durch das künstlerische Talent des Rechtsanwalts zum Glänzen gebracht werden kann.

Kommen wir auf das Kapitalismus-Tribunal zurück. Damit die Verhandlung nicht in erwartbare Litaneien verpufft, werden Advokaten des Teufels gebraucht, die danach zielen, den Prozessrahmen zu sprengen und eine Einstellung des Verfahrens zu erreichen. Dafür müssen sich die Angeklagten für schuldig bekennen, doch um dieses Bekenntnis sofort in eine breitere Anklage umzuwandeln, gegen das Tribunal, gegen die Klageseite oder gar gegen den Kapitalismus an sich. Ohne die einzelnen Plädoyers vorausbestimmen zu wollen seien nachfolgend ein paar mögliche Strategien skizziert.

Das Sündenbock-Argument. 2015 wurde Martin Shkreli alias „Pharma Bro“ zum „meist gehassten Mann der USA“ erklärt. Auf einmal hatte er den Preis eines Medikaments für AIDS-Kranke, das von seinem Unternehmen allein hergestellt wird, um 5500 Prozent erhöht. Die berechtigte Empörung darüber verkennt jedoch, dass Shkreli bloß ein etwas überzogener Fall ist. Die ganze Branche spekuliert weltweit und ganz legal mit dem Preis von Medikamenten. Shkreli wurde mithilfe der Pharmaindustrie an den Pranger gestellt, so wie die Mafia einen unberechenbaren Gangster der Polizei ausliefert, damit das Geschäft ungestört weitergeht. Ebenfalls kann jeder Einzelkonzern, der vorm Kapitalismustribunal zur Rechenschaft gezogen wird, von sich behaupten, er handele nicht anders als die Konkurrenz. Und jede inkriminierte Branche auf die anderen Branchen hinweisen, die nach derselben Logik agieren. Auf diese Weise lässt sich jeder konkrete Tatbestand in abstrakte Verallgemeinerung auflösen und der Anklage den Wind aus den Segeln nehmen.

Die Eichmann-Taktik ist wohl bekannt: „Ich war nur ein Rädchen im System, handelte immer nach geltenden Vorschriften, war an keinen Verbrechen direkt beteiligt.“ Das Argument ist nicht so schwach wie es aussieht, zumal im Gegenteil zu Eichmann die Angeklagten nach Gesetzen handeln, die zum Zeitpunkt des Prozesses immer noch gelten. Was sie tun ist vielleicht verwerflich, aber legal. Die Aufgabe eines Tribunals ist es nicht, moralische Urteile auszusprechen, sondern die Rechtmäßigkeit einer Handlung zu prüfen. Falls gesetzwidrige Taten festgestellt werden, sind die üblichen Gerichte zuständig. Ansonsten und solange die gesetzlichen Rahmen nicht geändert werden (und zwar weltweit) müssen die Protagonisten freigesprochen werden. Somit wird das Verfahren für nichtig erklärt.

Die Kosten-Nutzen-Abwägung ist die Umsetzung des Sprichwortes: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Gewiss werden Menschen benachteiligt, sie werden Armut, Überwachung, Belästigungen und Verblödung ausgesetzt, doch im Großen und Ganzen sichert der Kapitalismus einen nie da gewesenen Wohlstand. Das Tribunal ist kurzsichtig und parteiisch, wenn es nur die negativen Folgen unter die Lupe nimmt anstatt das Gesamtbild zu betrachten. Um ein gerechtes Urteil zu treffen, muss er für jeden untersuchten Fall nachweisen, dass die angesprochenen Missstände ohne die globalen Vorteile zu gefährden, vermeidbar wären.

Die Umkehrung des Anklagegrunds. Ein bevorzugter Trick der Neoliberalen. Ja, die Anklage ist berechtigt, das Verbrechen real, nur: Schuld daran ist nicht ein Zuviel an Kapitalismus, sondern ein Zuwenig! Verklagt eher die Bürokratie, die ineffizienten Regierungen, die hemmenden Gesetze! Wir könnten mehr Gutes tun, wenn uns der Staat nicht daran hindern würde! So kontraintuitiv das Argument auch ist(ja gerade weil kontraintuitiv), es vermag seit Jahrzehnten, jegliche Kritik zu destabilisieren. Um dieses Verteidigungsmodus zu kontern, ist von Seite des Tribunals viel theoretische Schärfe erforderlich.

Umgekehrt mögen aber auch die fehlenden Zwänge für verantwortlich erklärt werden, eine gewöhnliche Argumentation von Bill Gates oder George Soros: Dass wir Böses tun, liegt in unserer Natur; wir können nicht anders; das Versagen der Politik hat uns unseren räuberischen Instinkte ausgeliefert. So lange verbindliche Regeln uns nicht bändigen, wird es so weitergehen, bis zum finalen Kollaps. In der Sache hat also das Tribunal recht, wir aber sind unzurechnungsfähig.

Die Tu-quoque-Verteidigung, also die „Du auch!“-Widerrede, zielt danach, Anklägern und Richtern die Legitimität zu entziehen: „Sie, die mit Easyjet fliegen, Sie, die mit dem iPhone surfen, Sie, die Klamotten tragen, die von ausgebeuteten Kindern hergestellt werden, Sie, die ihre Vertreter wählen und Ihr Geld Banken anvertrauen, damit sie auf dem Weltmarkt spekulieren, Sie haben gar kein Recht, den Kapitalismus zu verurteilen! Sie sind doch Mittäter, profitieren mächtig von den besagten Verbrechen! Oder versuchen Sie nur, zu bestimmen, ab welcher Stufe der Verantwortungshierarchie Individuen ihre Unschuld verlieren!“

Der Vollständigkeit halber sei auch die selbstherrliche Missachtung des Gerichts erwähnt, in etwa: „Ihr Loser, nicht das Recht regiert die Welt, sondern Kräfteverhältnisse. Heißt nicht jenen gut, der einfach zu schwach ist, um Böses zu tun. Ihr Prozess ohne Strafe ist die Bestätigung ihrer Ohnmacht. Das Weltgericht ist die Weltgeschichte. Wehe den Besiegten! Wir pfeifen auf ihr Urteil!“

Wir wir sehen, in all diesen Fällen wird der Schwarze Peter von der Verteidigungslinie der gegnerischen Seite zugeschoben. Damit potenziert sich das Spiel. Jetzt ist das Tribunal in Bringschuld, es sieht sich gezwungen, sein Vorhaben zu rechtfertigen, die Einsprüche der Advokate zu widerlegen, die Begriffe genauer zu definieren und neue Argumentationsketten zu entwickeln. Der Ausgang bleibt offen. Denkbar ist sogar, dass alle Angeklagten freigesprochen werden, der Kapitalismus hingegen für absolut schuldig erklärt wird. Oder umgekehrt.

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