Wenn der Ausnahmezustand zur Regel wird

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Gegenwärtig wird in Frankreich nicht nur der Aufstand geprobt, auch wird mit einer neuen Art der Aufstandsbekämpfung experimentiert. Um die jetzige Situation zu begreifen, muss man auf den Notstand zurückkommen, der seit den Novemberanschlägen herrscht und neuerdings bis Ende Juli verlängert wurde, offiziell um die Fußball-EM zu schützen. Zwei Faktoren verbinden diese Ausnahmesituation mit der laufenden Bewegung. Erstens hatten Valls und Hollande im Januar ihr Arbeitsgesetz als Teil eines „wirtschaftlichen Notstands“ erklärt, welcher den Antiterror-Notstand ergänzen sollte. Offensichtlich ging es hier um einen typischen Fall der „Schock-Strategie“ wie sie Naomi Klein beschrieben hat. Das Blutbad kam wie gelegen, um unbeliebte neoliberale Maßnahmen durchzusetzen. Die Sozialdemokraten rechneten damit, dass die traumatisierte Bevölkerung auf Proteste verzichten würde. Weit gefehlt, wie man weiß! Jetzt spotten die bürgerliche wie die rechtsextreme Opposition darüber, dass noch nie so viel demonstriert wurde, seitdem der Notstand verhängt wurde (und Frau Le Pen denkt bloß die Logik der Sozialdemokraten zu Ende, wenn sie ein generelles Demonstrationsverbot verlangt).

Hingegen ist der zweite Faktor schrecklich effektiv: Es sind die neuen repressiven Maßnahmen gegen die eigene Bevölkerung, die sich der Staat unter diesem Vorwand erlauben kann. Von Anfang an hatte Innenminister Cazeneuve die EU informiert, dass Frankreich gewisse Bürgerrechte temporär ausschalten werde. Das Versprechen wurde gehalten. In der Praxis gibt der Ausnahmezustand den Sicherheitskräften außerordentliche Ermessensspielräume zulasten der richterlichen Gewalt. So kann ein jeder aufgrund sogenannter „blanken Notizen“ festgenommen oder unter Hausarrest gestellt werden. Blanke Notizen müssen keinerlei Begründung enthalten. Sie werden von Nachrichtendiensten oder der politischen Polizeiabteilung „Renseignements Généraux“ aufbereitet und vom Innenministerium ausgestellt. Da haben weder Untersuchungsrichter noch Rechtsanwälte das Sagen. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass solche Methoden zu keiner Aufdeckung islamistischer Terrornetzwerke geführt haben. Hingegen wurden sie bereits ende November angewendet, um während der zehntägigen Klimakonferenz COP 21 (ob hier das „cop“ humoristisch gemeint war?) Öko-Aktivisten zu Hause festzuhalten. Das war nur ein Vorspiel.

In den letzten Wochen bekamen dutzende von Menschen einen Hausbesuch von Polizisten, die ihnen das Verbot übermittelten, an irgendwelcher Demonstration teilzunehmen, solange der Notstand gilt. Einzige Begründung war, dass sie als Teilnehmer vergangener Demonstrationen identifiziert worden waren, am Rand derer Ausschreitungen statt gefunden hatten (das heisst: so gut wie jede Demo). Einige erhoben Einspruch (darunter ein Pressefotograf), und in neun unter zehn Fällen erklärten Pariser Richter das Verbot für unrechtmäßig. Offenbar fühlte sich das Judikative gekränkt; ein Konflikt mit der Exekutiven bahnte sich an. Dann kam der Zwischenfall am 18. Mai.

An jenem Tag demonstrieren Polizisten „gegen den Hass auf die Polizei“ auf dem Pariser Platz der Republik . Obwohl eine Gegendemonstration „gegen die Polizeigewalt“ verboten worden ist, sind einige Hunderte am Rand des Platzes versammelt, von einem enormen Polizeiaufgebot eingekesselt. Auf einmal wird zu einer „wilden Demo“ aufgerufen und wie durch ein Wunder eröffnet sich eine polizeifreie Straße. Augenzeugen versichern, sie hätten unter den Aufrufern Zivilpolizisten erkannt, die Minuten davor mit ihren Kollegen auf dem Platz standen. Wie dem auch sei, wenig später wird ein Polizeiauto von fünf maskierten Männern attackiert; durch die eingeschlagene Heckscheibe werfen sie eine Rauchbombe hinein. Als beide Insassen aussteigen, werden sie von ihren Angreifern noch kurz geschlagen ehe sie von anderen Demonstranten gerettet werden. Schließlich geht das Auto in Flammen. Die ganze Szene wurde gefilmt und das Video schlagartig in allen Medien gezeigt.  Einen besseren Beweis für die blinde Gewalt der Demonstranten und die Hilflosigkeit der Polizei hätte es nicht geben können.

An Ort und Stelle wird niemand festgenommen. Aber wenige Stunden später vekündet das Innenministerium, fünf junge Männer säßen wegen „versuchten Mords an Vertretern der Staatsgewalt“ in Polizeigewahrsam. Die fünf sind stadtbekannte Antifa-Aktivisten und, welch ein Zufall, alle hatten die Tage zuvor ein amtliches Demonstrationsverbot erhalten. Wer würde noch wagen zu bestreiten, dass die Maßnahme berechtigt war? Nur erklären die Anwälte in der Zeitung Le Monde, dass es gegen ihre Mandanten nicht den geringsten Beweis gibt (selbst die Ermittler geben es offen zu!). Videos zeigen bloß dass sie auf der Straße anwesend waren, wohlgemerkt unmaskiert, und das bestreiten sie auch nicht. Offensichtlich hat die politische Polizei fünf Namen aus ihrer Kartei gezogen, um ein Exempel zu statuieren. Die fünf riskieren eine sehr lange Gefängnisstrafe. Mit Sicherheit wird der Fall viele juristische und nicht-juristische Kämpfe verursachen.

Es ist aber nicht so, dass die Richter laxer seien, als das Innenministerium. Auch wegen versuchten Mordes ist ein 18jähriger Schüler angeklagt worden, der an einer Straßenschlacht in Nantes teilgenommen hatte. Da heute alles gefilmt wird, kann man ebenfalls auf Youtube sehen, wie ein einsamer, wild gewordener CRS-Kommandeur um sich herumknüppelt, ehe er von einer Gruppe zu Boden geworfen und getreten wird. Schließlich kommt er mit gebrochener Nase davon. Ein solcher Zwischenfall ist bei Protesten (zumindest in Frankreich) nicht unüblich. Von einer „neuen Qualität der Gewalt“ kann keine Rede sein, im Gegenteil: In den 70er Jahren wurden während Aufständen einmal von südfranzösischen Winzern, einmal von korsischen Independantisten mehrere CRS mit Gewehren erschossen! Im Vergleich dazu zeugt die heutige Jugend von beispielhafter Milde. Vielmehr ist es die Polizei, die dank ihrer modernen Waffen gewalttätiger ist, als damals -und die Justiz, die das Maß verloren hat. Körperverletzung zu versuchtem Mord aufzublasen, zeugt von politischer Einflussnahme. Zur Erinnerung: Der Polizist, der vor zwei Jahren den jungen Botaniker Remi Fraysse mit einer Granate umbrachte, als dieser gegen die Zerstörung eines Feuchtgebiets demonstrierte, wurde freigesprochen.

Justizbeobachter stellen fest, dass die Richter zur Zeit systematisch den exorbitanten Anträgen der Staatsanwälten folgen. Und das nicht nur in Fällen von Gewalt. Am 19. Mai in Rennes wollten 19 Menschen den Stadtbewohnern eine kostenlose U-Bahnfahrt schenken (es war ein sonniger Demonstrationstag). Mit Schaumstoff klebten sie viele Entwerter am Metro-Eingang zu -leider ohne zu wissen, dass sie von V-Männern bespitzelt worden waren. Sie wurden umgehend festgenommen, woraufhin sämtliche Medien des Landes von einem gefährlichen Kommando berichteten, das „die U-Bahn sabotiert“ hatte! Jetzt sitzen sie wegen „Bandenbildung“ und „organisierter Planung schwerer Gewalttaten“ in U-Haft. Für die Lappalie droht ihnen eine siebenjährige Gefängnisstrafe.

Das sind nur markante Beispiele einer Situation, die endemisch wird. Von den Provokationen der Polizei angefangen, die keine Gelegenheit verpasst, auf die Menge mit Tränengas und Gummigeschossen zu schießen, über die willkürlichen Lettres de cachet des Innenministeriums bis hin zu den haarsträubenden Anklagegründen der Justiz wird methodisch ein repressives Dispositiv eingerichtet, wodurch alle Kriterien des Rechtsstaates mit den Füßen getreten werden. Momentan helfen diese Maßnahmen einem sozialdemokratischen Präsidenten, eine Politik durchzudrücken, die so gut wie keiner will. Da aber eine Mehrheit der Polizisten die Nationale Front unterstützt, lässt sich erahnen, in welche Richtung diese Entwicklung führen könnte.

Niemand kann ernsthaft glauben, dass die Notstandmaßnahmen eine temporäre (wenn auch exzessive) Reaktion auf die Terrordrohung sind und mit ihr bald verschwinden werden. Erstens sind sie für ihr erklärtes Ziel völlig ungeeignet. Zweitens wird der Ausnahmezustand ganz schnell zur Regel. Ist einmal die Büchse der Pandora geöffnet (auf französisch bedeutet „Pandore“ umgangssprachlich: Polizist) ist eine zwingende Kraft nötig, um sie wieder zu schließen. Als Frankreich in den achtziger und neunziger Jahren von Terroranschlägen heimgesucht wurde, waren bereits „temporäre“ Maßnahmen ergriffen worden, die seitdem nie rückgängig gemacht worden sind.

Vor allem eignet sich diese Situation zur postdemokratischen Gouvernementalität. Ein Rechtsstaat kann sehr wohl formal fortbestehen, während faschistische Methoden im Namen seiner Rettung angewendet werden (davon können die spanischen Basken ein Lied singen). Um den Notstand zu verewigen, sind nicht einmal weitere Anschläge nötig, ein paar „Warnhinweise“ von irgendwelchen Geheimdiensten reichen schon. Es mag also sein, dass Frankreich gegenwärtig das Labor für eine disziplinäre Politik darstellt, die nach Bedarf in anderen Ländern implementiert werden könnte. Allerdings: Gesiegt hat dort die Repression noch nicht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

16 Antwort auf “Wenn der Ausnahmezustand zur Regel wird”

    • Guillaume Paoli

      Nein, gibt es nicht. ich schreibe nur darüber, weil in Deutschland nur sehr wenig berichtet wird. In Frankreich hingegen wird meine diesbetreffende Prosa nicht gebraucht!

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  1. trapeis

    Danke für die Zusammenfassung und Erklärung!
    dumme Frage: oben schreiben Sie:
    “Einige erhoben Einspruch (darunter ein Pressefotograf), und in neun unter zehn Fällen erklärten Pariser Richter das Verbot für unrechtmäßig. Offenbar fühlte sich das Judikative gekränk…”
    Zum Schluss hin dann aber: “Justizbeobachter stellen fest, dass die Richter zur Zeit den exorbitanten Anträgen der Staatsanwälten systematisch folgen.”
    Ist das nicht ein gewisser Widerspruch? Hat es in der Justiz seitdem also eine entsprechende Entwicklung gegeben? Nur zum Verständnis
    Danke!

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    • Guillaume Paoli

      Es sind zwei verschiedene Sachen. Im ersten Fall geht es um das Prinzip: Darf die Polizei ein Demonstrationsverbot aussprechen, also Bürgerrechte ohne juristische Verhandlung einschränken? Da spielt es keine Rolle, ob der Beschuldigte tatsächlich gewalttätig war oder nicht. Es geht nur um die Strafe selbst und um die Art und Weise, wie sie beschlossen wird. Und die Richter sind sauer, wenn das Innenministerium ihre eigene Funktion, die Rechtssprechung, übernimmt.

      Im zweiten Fall geht es um den “normalen” Verlauf der Justiz. Der Staatsanwalt sagt “es war versuchter Mord”, der Rechtsanwalt “Körperverletzung”, der Richter soll entscheiden, wie die Straftat schließlich eingestuft wird. “Körperverletzung” heisst, der Angeklagte geht vor einem “Tribunal correctionnel”, wo der maximale Strafmaß 7 Jahre Haft ist. Hingegen werden Angeklagte wegen “Versuchten Mords” vor einen Geschworenengericht geschickt, mit keiner Höchstbegrenzung. Normalerweise wird die Entscheidung gemäß Präzedenzfälle bestimmt. Bisher also wusste ein Demonstrant mehr oder weniger was er riskierte, wenn er einen Stein warf. Das ist jetzt nicht mehr der Fall.

      Antworten
      • trapeis

        Vielen Dank für die ausführliche Antwort!
        Der neu geschaffene (Präzedenz)fall ist natürlich eine schwierige Sache.

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  2. Last Born

    Kein Frankreich Experte aber finde die Entwicklungen in unserem Nachbarland und wichtigsten Partner in der EU werden gradezu gewollt ignoriert. Bis auf die Front National kommt da dann auch nicht viel mehr in den Nachrichten. Grade als Deutschland müsste man doch mal kritisch nachfragen was da los ist bei unseren französichen Freunden. Und warum mussten wir uns in den Syrien konflikt mit reinziehen lassen obwohl es doch offensichtlich nur ein Zug Hollandes war innenpolitisch zu Punkten? Das hat alles was von einer Beziehung in dem der eine Partner völlig resigniert hat und Diskussionen nicht mehr statfinden. Also einem Zustand kurz vor der Scheidung.

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  3. André Grube

    Vielen Dank für Ihren Aufsatz!
    Ich bin durch die SpiegelOnline-Kolumne von Sascha Lobo darauf aufmerksam geworden. Sie werden umgehend weiterempfohlen.
    Merci und viele Grüße
    André Grube

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  4. Michael

    Vielen Dank für einen kleinen Einblick in die politischen Entwicklungen im Geburtsort der modernen Demokratien. Düstere Zeiten für Europa :-(

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  5. the saXon

    Sind Demokratien nicht endogen proto-faschistisch? Die Demokratiemaschine der Ersten Welt hat den Rest des Planeten seit dem Ende des WK II systematisch unterdrueckt und ausgebeutet. Unterdrueckung und Ausbeutung sind gemeinhin autoritaer. The Wretched of the Earth antworten mit massiver Voelkerwanderung und tragen die urfaschistische Sendung der Globalisierung zurueck in die pseudo-demokratischen Gesellschaften der westlichen Welt. Diese Gesellschaften, nun, konfrontiert mit den Ergebnissen ihrer perfiden Aussenpoltik, sehen sich nicht als Taeter, sondern als Opfer ihrer eigenen Sendung. Der Aufstieg des Neofaschismus in den westlichen Demokratien ist das Ergebnis von einem infantilen Missverstaendnis der eigenen politischen Psyche. Wenn, was ich nicht weiss, mich ploetzlich heiss macht, dann sind wir an einem Punkt (in unserer Wut gegen Gott/Welt), wo unsere Scham und Gier endlich ausrasten: in den Gaerten, Kuechen, Knochen, und Fotzen unserer lieben Landsleute.

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  6. Tom

    Lieber Guillaume,

    vielen Dank für diesen aufschlussreichen Aufsatz! Mir war bisher nicht klar, auf welche Weise der französische Staat schleichend undemokratischer wird. Ich hoffe ihr schafft es Liberté, Égalité, Fraternité zu verteidigen!

    Viele Grüße
    Tom

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  7. the saXon

    radio kaltes europa

    als der osten unterging
    die sonne nur noch grau
    am ploetzlich seidenen faden
    hingst du herum:
    genosse, trinker, verweigerer
    der suessen stunde null
    so als nachgeburt
    im schatten der weltzeituhr

    als der westen aufschlug
    die sonne nur noch weiss
    an langsam blutenden armen
    gingst du vorbei:
    winzer, fahrschueler, unternehmer
    der letzten stunde voll
    so als fruehgeburt
    im rasen der hochkultur

    the saXon

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