Das Metronom ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Es war ein Sieg der mechanischen über die subjektive Zeit. Früher wurde das Tempo eines Stückes von dem Zeitabstand zwischen zwei Herzschlägen des Musizierenden bestimmt. Da die Zuhörer denselben inneren Takt hatten, empfanden sie den musikalischen Fluss als „natürlich“. Um alte Musik so wiederzugeben, wie sie damals gespielt wurde, sollte man sich also nach dem eigenen Herzen richten, erzählt die Lautespielerin Tsiporah Meiran, um gleich das Problem dabei zu erläutern: Im Durchschnitt betrug der Puls eines Menschen des 16. Jahrhunderts 58 Schläge pro Minute; es sind heute 80 Schläge! Da haben wir ein Gradmesser der vielbesprochenen Beschleunigung. Unser Lebenstempo hat sich auf ein Drittel erhöht. Liefen damals alle in Zeitlupe? Würden sie uns als verkokste Berserker ansehen? Jedenfalls wäre ein nach heutigem Herzschlagtakt gespieltes Stück aus der Renaissance viel schneller als das Original. Andererseits käme uns die getreue Wiedergabe unerträglich hypotonisch vor. Wie ich finde, ist das ein passendes Bild für die unmögliche Suche nach Ursprünglichkeit und Authentizität.
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Feigheit vorm Volk
Warum sickert in einer Kaffeemaschine das Wasser durch das ganze Kaffeepulver durch, anstatt bloß nach unten zu tröpfeln? Das Phänomen heisst Perkolation -auf englisch nennt sich auch die Kaffeemaschine percolator. Generell beschreibt die Perkolationstheorie wie in einem gegebenen System Punkte, die voneinander getrennt sind, sich in zufallsbedingten Zusammenhängen untereinander verbinden, welche sich wiederum mit anderen Zusammenhängen vernetzen. Zieht sich der Prozess weiter durch, dann wird eine „Perkolationsschwelle“ erreicht: Das System kippt von seinem ursprünglichen Zustand in einen neuen Zustand um (zum Beispiel wird der Kaffeesatz komplett durchnässt). Der belgische Anthropologe Paul Jorion meint: „Mit der Perkolation entstehen unzählige Wege, die ohne Unterbrechung durch das gesamte System führen und zwar ganz gleich, wo der Eingangspunkt lag.“ Darum ist Perkolation, wenn nicht ein Modell, dann zumindest eine geeignete Metapher, um die Dynamik sozialer Bewegungen zu beschreiben. Sie ist auf jeden Fall passender als das Bild des „Virus“, das, immer wenn sich ein Aufstand ausbreitet, von einfallslosen Journalisten bemüht wird.
Wir sind alle vereinzelte Punkte im System. Jeder mag sich über dies und jenes empören, jeder mag sich wünschen, dass sich endlich etwas dagegen tut, doch solange Gefühle und Wünsche nicht kommuniziert werden, bleibt die Ohnmacht intakt und mithin das System. Zwar formieren sich immer wieder politische Zusammenhänge und Protestcluster, doch meistens stoßen sie schnell an unüberbrückbare Grenzen. Das besetzte Feld wird von den Nachbarfeldern ignoriert. Doch ab und an findet das perkolative Moment statt. In letzter Zeit wurde das Phänomen u.a. in Tunesien, Ägypten, Spanien, Brasilien und der Türkei beobachtet. Tausende versammeln sich an einem Ort und plötzlich sind es Zehntausende, die sich mit weiteren Zehntausenden verbinden, bis das ganze Gesellschaftsgewebe von zahllosen Kommunikationswegen durchdrungen ist. Die Summe der privaten Empörungen wird zu öffentlicher Rebellion, die individuelle Ohnmacht zur kollektiven Macht, die Angst verflüchtigt sich und das System kippt um, zumindest für einen kurzen Augenblick. Weiterlesen…
Salon des Amateurs
“Tue nicht, was ich getan habe. Das ist keine Lösung.Ich bin ein Kenner unter den Dilettanten und ein Dilettant unter den Kennern.“
Das sagt in Fellinis La dolce vita der von Alain Cuny gespielte Steiner zu seinem Freund Marcello (Mastroianni). Zumindest in der französischen Fassung des Filmes. In der Originalfassung ist die Formulierung weniger prägnant, was damit zusammenhängt, dass das Zitat ein französisches ist. In einem Interview erzählte Alain Cuny, dass er es war, der Fellini diesen schönen Satz zugeflüstert hatte. Er hatte ihn nämlich von André Breton. Das ist um so denkwürdiger, dass Breton der amateur professionnel schlechthin war.
Als ich dieses Blog anfange, kommt mir diese Mahnung in den Sinn. Es ist denkbar einfach, als Kenner unter den Dilettanten zu gelten. Wir wissen allzu gut, wie im Netz jede halb gedachte Meinung von hunderttausend Followers enthusiastisch weiterverbreitet werden kann. In meiner Tätigkeit als Hausphilosoph konnte ich feststellen, wie ein Mindestmaß an Allgemeinwissen bereits ausreicht, um in der gegenwärtigen Kulturöde zu brillieren. Allerdings hatte ich auch die Gelegenheit, mit ausgewiesenen Experten zu debattieren, die auf allen Medienkanälen über alle möglichen Themen dozieren (lieber jetzt keinen Namen nennen). Und oft stellte ich fest, dass ihre eigentliche Könnerschaft eine rein rhetorische war, vor allem die Kunst, kritischen Fragen auszuweichen. Die Erfahrung hilft gegen etwaige Hemmungen, unter den Kennern zu erscheinen. Angesichts des geistigen Konformismus, der insbesondere in Deutschland herrscht, ist es angeraten, sich von Jargon und Groupthink nicht einschüchtern zu lassen. Keine falsche Bescheidenheit also. Doch dürfen sich Blogger wie Leser nichts vormachen. Wir bleiben Amateure und Dilettanten. Freilich ist das kein Grund, wie Fellinis Charakter zu verzweifeln (kurz nach dieser Bemerkung bringt er sich um). Schließlich bedeuten beide Wörter: Liebhaber.