Apropos Nizza

Über Mohamed Lahouaiej Bouhlel, den Massenmörder von Nizza, ist wenig bekannt. Er scheint ein ganz unscheinbares Arschloch gewesen zu sein. Der 31jährige Tunesier war verheiratet, hatte drei Kinder, prügelte oft seine Frau, von der er sich vor zwei Jahren trennte. Seitdem wohnte er allein. Seine Nachbarn erzählen Journalisten, was Nachbarn halt zu erzählen haben. Er war „immer gepflegt“, „ein Alleingänger“, „hat nie gegrüßt“. Der Vater sagt, der Sohn sei psychisch Krank gewesen, habe unter Depression gelitten und Psychopharmaka genommen. Oft habe er alles um sich herum demoliert. Mehr lesen…

Kleine Anthologie der Gegenwartspoesie

Die Intensität einer Revolte wird an den schriftlichen Spuren gemessen,

die sie an Straßenfassaden hinterlässt.

Für die Fortsetzung der Welt

Für die Fortsetzung der Welt

Eine Barrikade hat nur zwei Seiten

Eine Barrikade hat nur zwei Seiten

Dieses Graffiti ist demokratisch, es wurde in der Generallversammlung abgestimmt

Dieses Graffiti ist demokratisch, es wurde in der Generalversammlung abgestimmt

Wer Tränengas sät, erntet Pflastersteine

Wer Tränengas sät, erntet Pflastersteine

Das Ende einer Welt kündigt sich durch widersprüchliche Zeichen an.

Das Ende einer Welt kündigt sich durch widersprüchliche Zeichen an.

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Das Volk wird abgewählt

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Seit Wochen ruft Marine Le Pen nach einem Verbot aller Demonstrationen in Frankreich. Jetzt erwägt die sozialdemokratische Regierung, genau das zu tun. „Kein generelles Verbot, weil wir das nicht dürfen“, seufzt Valls (diese verdammte Menschenrechtserklärung!), „aber von Fall zu Fall werden wir unsere Verantwortung übernehmen.“ Und Hollande: „Wenn, wie jetzt der Fall ist, die Sicherheit von Personen und Gütern nicht mehr garantiert werden kann, werden wir im Einzelfall Demonstrationen nicht genehmigen“. Mehr lesen…

Auf nüchternen Magen einnehmen

Zur Zeit erhalte ich Texte zur Bewegung in Frankreich, in denen die Situation maßlos übertrieben wird. Auf einer englischsprachigen Website ist sogar von den „größten Protesten seit der französischen Revolution“ die Rede, was nur zeigt, dass die Autoren keine Ahnung von Geschichte haben. Da ich in manchen Texten zitiert werde, wird mir etwas mulmig. Ich glaube nicht, dass ich zu solchen Fehleinschätzungen beigetragen hätte. Außerdem wurde ich oft genug von Ereignissen gut wie böse überrascht, um irgendwelche Prognosen liefern zu wollen. Doch wollen wir versuchen, die momentane Lage etwas nüchtern anzuschauen.

 Erstens: Die Regierung hat den Terminkalender voll im Griff. Zur Zeit wird das Arbeitsgesetz vom Senat abgeändert, und da dieser von den Konservativen dominiert ist, wird ein viel schärferer Entwurf ausgearbeitet. Dann wird der Text vor die Nationalversammlung zurückkommen, und die Regierung wird die ursprüngliche Fassung als das kleinere Übel verkaufen, um die Zustimmung der renitenten linken Abgeordneten zu gewinnen. Gelingt das nicht, dann wird wieder einmal den Verfassungsartikel 49.3. herausgeholt, und das Gesetz wird per Dekret ein für allemal verabschiedet. In der Zwischenzeit sind Valls und Hollande entschlossen, die Protestwelle auszusitzen.

Zweitens: Alle Hoffnungen richten sich jetzt auf den 14. Juni, weil die Gewerkschaften erneut zu einem nationalen Aktionstag aufgerufen haben. Das zeigt, wie sehr die Gewerkschaften, allen voran die CGT, das Tempo bestimmen. Zum Vergleich: Der Mai 1968 war ein wilder Generalstreik; die Gewerkschaften rannten der Bewegung hinterher, um sie „erfolgreich“ zu beenden. Hierzulande herrscht ein falsches Bild der CGT als „radikale“ Gewerkschaft. Das ist sie nicht. Ein Beispiel: 2010 setzte Sarkozy das Gesetz zur Anhebung des Rentenalters durch. Wie? Er hatte einen Deal mit der CGT gemacht: Ihr schränkt die Proteste ein, dafür garantiere ich euch eine verbesserte Representativität. Letzten April war es im Nationalkongress der CGT die Basis, die nach unbefristeten Streiks rief. Jetzt hat CGT-Vorstand Martinez seine Position bereits abgemildert. Er fordert nicht mehr den totalen Rückruf des Gesetzes, sondern einzig dessen Artikel 2 (wonach Arbeitszeit und Löhne innerbetrieblich vereinbart werden und nicht mehr auf Branchenebene.) Er wäre jederzeit bereit, sagt er, mit Valls zu verhandeln, nur will Valls nicht. In diesem Konflikt kämpft die CGT in erster Linie um ihr Image. Nächstes Jahr werden Betriebsräte neu gewählt und es könnte sein, dass die „reformfreundliche“ CFDT zum ersten Mal die CGT überholt. Das hätte auch die Regierung gern, daher ihre harte Linie gegenüber der postkommunistischen Gewerkschaft. Mehr lesen…

Da musst du durch

In Frankreich demonstrieren die Menschen erbittert gegen neue Sozial- und Arbeitsmarktgesetze.
Deutschland schaut weg. Warum?

Ein Beitrag von mir in der taz vom 1.6.2016.

Wenn der Ausnahmezustand zur Regel wird

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Gegenwärtig wird in Frankreich nicht nur der Aufstand geprobt, auch wird mit einer neuen Art der Aufstandsbekämpfung experimentiert. Um die jetzige Situation zu begreifen, muss man auf den Notstand zurückkommen, der seit den Novemberanschlägen herrscht und neuerdings bis Ende Juli verlängert wurde, offiziell um die Fußball-EM zu schützen. Zwei Faktoren verbinden diese Ausnahmesituation mit der laufenden Bewegung. Erstens hatten Valls und Hollande im Januar ihr Arbeitsgesetz als Teil eines „wirtschaftlichen Notstands“ erklärt, welcher den Antiterror-Notstand ergänzen sollte. Offensichtlich ging es hier um einen typischen Fall der „Schock-Strategie“ wie sie Naomi Klein beschrieben hat. Das Blutbad kam wie gelegen, um unbeliebte neoliberale Maßnahmen durchzusetzen. Die Sozialdemokraten rechneten damit, dass die traumatisierte Bevölkerung auf Proteste verzichten würde. Weit gefehlt, wie man weiß! Jetzt spotten die bürgerliche wie die rechtsextreme Opposition darüber, dass noch nie so viel demonstriert wurde, seitdem der Notstand verhängt wurde (und Frau Le Pen denkt bloß die Logik der Sozialdemokraten zu Ende, wenn sie ein generelles Demonstrationsverbot verlangt).

Hingegen ist der zweite Faktor schrecklich effektiv: Es sind die neuen repressiven Maßnahmen gegen die eigene Bevölkerung, die sich der Staat unter diesem Vorwand erlauben kann. Von Anfang an hatte Innenminister Cazeneuve die EU informiert, dass Frankreich gewisse Bürgerrechte temporär ausschalten werde. Das Versprechen wurde gehalten. In der Praxis gibt der Ausnahmezustand den Sicherheitskräften außerordentliche Ermessensspielräume zulasten der richterlichen Gewalt. So kann ein jeder aufgrund sogenannter „blanken Notizen“ festgenommen oder unter Hausarrest gestellt werden. Blanke Notizen müssen keinerlei Begründung enthalten. Sie werden von Nachrichtendiensten oder der politischen Polizeiabteilung „Renseignements Généraux“ aufbereitet und vom Innenministerium ausgestellt. Da haben weder Untersuchungsrichter noch Rechtsanwälte das Sagen. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass solche Methoden zu keiner Aufdeckung islamistischer Terrornetzwerke geführt haben. Hingegen wurden sie bereits ende November angewendet, um während der zehntägigen Klimakonferenz COP 21 (ob hier das „cop“ humoristisch gemeint war?) Öko-Aktivisten zu Hause festzuhalten. Das war nur ein Vorspiel.

In den letzten Wochen bekamen dutzende von Menschen einen Hausbesuch von Polizisten, die ihnen das Verbot übermittelten, an irgendwelcher Demonstration teilzunehmen, solange der Notstand gilt. Einzige Begründung war, dass sie als Teilnehmer vergangener Demonstrationen identifiziert worden waren, am Rand derer Ausschreitungen statt gefunden hatten (das heisst: so gut wie jede Demo). Einige erhoben Einspruch (darunter ein Pressefotograf), und in neun unter zehn Fällen erklärten Pariser Richter das Verbot für unrechtmäßig. Offenbar fühlte sich das Judikative gekränkt; ein Konflikt mit der Exekutiven bahnte sich an. Dann kam der Zwischenfall am 18. Mai. Mehr lesen…

Die französische Politik in schlechter Verfassung

„Sieben von zehn Franzosen haben sich in Umfragen gegen das Arbeitsgesetz ausgesprochen. Ein großer Teil der Gewerkschaften rebelliert ebenso wie viele junge Menschen auf der Straße. Mehr als 150 Polizisten sind seit Beginn der Demonstrationen verletzt worden. (…) Ja, Frankreich ist schwer zu reformieren, umso mehr muss sich eine Regierung von inneren Widersprüchen befreien.“ (FAZ)

 

Effekt eines Hartgummigeschosses der Polizei auf der Brust einer Studentin

Effekt eines Hartgummigeschosses der Polizei auf der Brust einer Studentin

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Willkommen zur Flashball-EM!

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Ein wichtiger Grund für das überstürzte Bestreben der französischen Regierung, mit Repression und Ausschaltung des Parlaments den andauernden Protest loszuwerden, sollte nicht außer Acht gelassen werden: Am 10. Juni fängt die Fussball-EM an. Damit dieses für Wirtschaft und Prestige belangvolles Event störungsfrei verläuft, wurde der Ausnahmezustand bis dahin verlängert.

Da am 13. November die Pariser Attentäter ein Blutbad im Stade de France anrichten wollten, ist die Befürchtung nicht unbegründet, andere Dschihadisten könnten es erneut versuchen. Daher war von vornherein klar, dass die EM unter maximalem crowd control statt finden würde. Jetzt steht aber die Sorge um andersartige Störungen im Vordergrund. Die Spiele werden in Paris, Lille, Bordeaux, Toulouse, Marseille, Nizza, St Etienne und Lyon ausgetragen. In all diesen Städten finden Nuit-Debout-Kundgebungen statt, in manchen ist die Militanz besonders hoch. Häufig werfen die Medien den Platzbesetzern vor, sie eignen sich öffentliche Räume für ihre private Belange an – ein lächerliches Argument, wenn man sieht, wie „öffentliche“ Räume der Warenherrschaft unterworfen sind. Der Skandal ist eben, dass die Besetzer miteinander reden, anstatt wie Schlafwandler einzukaufen. Sie geben sich nicht mit dem Ritual des Protests zufrieden (zwei Stunden demonstrieren, dann geht jeder nachhause), sondern nehmen sich das Öffentliche zurück.

Nun muss Platz frei gemacht werden, damit Fanmeilen eingerichtet werden. Platz frei für passive, atomisierte Massen, deren einzige Gemeinsamkeit das Zuschauen eines durchökonomisierten Spiels ist. Dort soll das realexistierende Europa wie es sich gebührt gefeiert werden, ein Europa des großen Geldes und der kleinen Bestechungen, ein Europa der Ohnmacht und der Überwachung. Und am Ende gewinnt Deutschland. Die Fanmeile ist das exakte Gegenteil der Nuit Debout. Eine Koexistenz ist ausgeschlossen. Nicht ohne Grund fürchtet die Staatsgewalt, dass das schöne Fest von Störenfrieden sabotiert werden könnte. Die internationale Aufmerksamkeit auf die EM wäre eine wunderbare Gelegenheit, die Gründe des Zorns bekannt zu machen und die Nachrichtensperre zu brechen, die u.a. in Deutschland herrscht. Das soll mit allen Mitteln verhindert werden. Mehr lesen…

Frankreich-Chronik, 1. April – 10. Mai 2016

Ich war in Deutschland fast der einzige, der Nachrichten über die Proteste gegen das Arbeitsgesetz und die Nuit-Debout-Bewegung in Echtzeit veröffentlichte. Darauf bin ich nicht stolz, viel mehr wütend über die Nachrichtensperre der Medien. Da ich die Meldungen über Facebook verbreitete, ein flüchtiges Medium,  sind hier einige wiedergegeben.

23. März.

Wie zahlreiche Gymnasien wird  das Pariser Lycée Bergson von protestierenden Schülern besetzt. Dieses Vidéo verbreitet sich viral übers Netz. Es zeigt, wie brutal Polizisten gegen die Jugend vorgehen und wird für Empörung und Gegenwehr sorgen.

1. April.

Paris gestern. In ganz Frankreich haben hunderttausende Arbeiter, Studenten und Schüler gegen die Pläne der sozialdemokratischen Regierung demonstriert, eine Art Agenda 2010 à la française durchzuboxen. In den letzten Wochen wurden insbesondere die streikenden Gymnasiasten einer selbst für Frankreich ungewöhnlichen Polizeibrutalität ausgesetzt. Wie man sieht, haben sie schnell gelernt, sich zu wehren. Endlich erhält das Wort “Radikalisierung” seine richtige Bedeutung wieder. Der Frühling könnte heiss werden.

https://www.youtube.com/watch?v=-DQIPCPbWYg&app=desktop

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