Unberechenbar werden

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Die digitale Öffentlichkeit ist enttäuscht. Es liegt nicht so sehr daran, dass wir von Google und Konsorten ohne unser Wissen ausgewertet, verwertet und weiterverkauft werden, das wäre noch zu verkraften. Auch dass demokratische Staaten uns alle auf eine Weise ausspionieren, wie es keine totalitäre Diktatur jemals getan hat, ist zwar schwer zu schlucken, lässt sich jedoch noch irgendwie wegerklären. Die eigentliche Schmach ist in etwas anderem begründet. Nämlich in der unterschwelligen Feststellung, all unsere Gedanken und Handlungen können deswegen überwacht und manipuliert werden, weil sie komplett berechenbar seien. Das Determinismus-Team hat über die Mannschaft des freien Willens durch ein technisches KO gesiegt. Individuelle Autonomie war bloß ein Mangel an Algorithmen. Nun sind sie da, die Algorithmen, sie werden immer besser, und alleweil flüstern uns ihre Analytiker zu: „Du bist nichts anderes als ein Nullkommaetwas, eine statistische Schnittmenge, ein durchschaubarer Datenhaufen. Du hast das Privileg, in einer freiheitlichen Ordnung zu leben, weil auf dem Schachbrett der Angebote und Präferenzen all deine Züge vorherbestimmt sind. Du hast die freie Wahl und was du wählen wirst, ist uns schon bekannt.“ Von dieser narzisstischen Kränkung wird sich die liberale Subjektivität schwer erholen können. Ach, wie frei wähnte sich der postmoderne Hedonist! Von allen Traditionen und äußeren Einflüssen losgelöst! Durch die Vielfalt der Singularitäten schweifend! Seine temporären Identitäten nach Gusto wechselnd! War es nicht ein guter deal, seine veraltete Seele gegen einen Teller Conchitawürstchen eingetäuscht zu haben? Wieso hätte sich der user ernsthaft gegen eine Macht aufgelehnt, die ihm gegenüber so großzügig war? Ihm wurde alles geschenkt, Bilder und soziale Kontakte, Unterhaltung und Wissen, Community und Personalisierung, alles für lau. Zu spät erfuhr er, dass er doch einen faustischen Pakt eingegangen war: Was er dafür ausgeben sollte, war die Verfügung über sich selbst.
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Die Ordnung herrscht in Berlin

Mittwoch 26.03, 20.00: Buchpräsentation “Die Ordnung herrscht in Berlin” von Francesco Masci. Mit dem Autor spricht Guillaume Paoli. Ort: Matthes & Seitz Berlin, Göhrener Str. 4, 10437. Eintritt frei.
Auszug:
“Am Ausgang der Volksbühne, wo sich Anfang der dreißiger Jahre SA und KPD gewaltsame Auseinandersetzungen lieferten, zieht heute das Publikum gesittet seiner Wege, nachdem es unbeteiligt dem Vortrag des gerade angesagtesten kommunistischen Philosophen gelauscht hat. In aller Frühe stehen an einem anderen Ort der Stadt Hunderte von Menschen friedlich in einer langen Schlange. Häufig warten sie mehrere Stunden lang, um am Türsteher des Berghain vorbeizugelangen, der ihnen mit einer einfachen Kopfbewegung über Einlass oder Abweisung Auskunft gibt. In Berlin erinnern uns zahlreiche Alltagsszenen daran, dass das Ziel jedes utopischen Gesetzentwurfs die Aufrechterhaltung der Ordnung ist.”

Nervositäten

Opa_Otto_Falckner

hier zum Nachhören

Nervositäten

Vorahnung und Überdruss in der Dämmerung zum 1. Weltkrieg – Ein Feature von Guillaume Paoli

Ein Donnerschlag. So wird die Kriegserklärung am 2. August 1914 immer wieder beschrieben. Doch dieser Donner kam nicht aus heiterem Himmel. Gerade in den vorausgegangenen Monaten war die Atmosphäre immer drückender geworden. Jeder wusste, dass ein Weltenbrand bevorstand, doch niemand konnte wirklich daran glauben. Der zittrige Zustand wurde durch die Unzufriedenheit an der Gegenwart geschürt: Während sich Lebensreformer gegen die überkommene Moral auflehnten, prangerten Kulturkritiker die moderne Dekadenz an. Die Diagnose der Nervosität war in aller Munde. Sämtliche Möglichkeiten der Epoche offenbarten sich noch einmal, bevor diese unterging.
Das Feature rekonstruiert durch literarische Textcollage und philosophische Interventionen den unmittelbar vor Kriegsausbruch kulminierenden kulturellen Konflikt.

Dramaturgische Beratung: Katrin Schumacher
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Ton: Martin Eichberg
Redaktion: Barbara Wahlster
Es sprechen: Frank Arnold, Günther Harder, Manuel Harder, Birgit Unterweger, Katrin Schumacher und Cordelia Wege

© Deutschlandradio Kultur 2014

Neues aus dem antikapitalistischen Kapitalismus

adplakatOccupy-Wall-Street-Plakat von Adbusters, jetzt von Walmart verkauft

Crowdfunding ist die gemütlichere Form des Bettelns. Anstatt an einer kalten Straßenecke zu stehen und Menschen direkt anzusprechen, sitze ich im warmen Nest vor dem Computer und versuche, über soziale Netzwerke die Öffentlichkeit für eine gute Sache zu gewinnen. Spenden ein paar Hunderttausende einen kleinen Obolus, dann ist die Finanzierung meines Konzepts gesichert. In Zeiten des Subventionsabbaus und der ausbleibenden Sponsoren werden wir immer häufiger darum gebeten, für die Realisierung eines Filmes, eines Musikalbums oder eines politischen Projekts einen bescheidenen Betrag zu überweisen. Selbstverständlich haben sich Internetplattformen auf Schwarmfinanzierung spezialisiert, am erfolgreichsten das US-amerikanische StartUp-Unternehmen Kickstarter. Das tun sie nicht aus reiner Nächstenliebe, Kickstarter erhebt eine Vermittlungsprovision in Höhe von 5% der erreichten Summe (dazu kassiert Amazon-Payments auch etwas). Bei der Gesamtmenge der Mikrotransaktionen ein gutes Geschäft. Aber auch für die Projektmacher kann Schwarmfinanzierung einen Geldsegen bedeuten. So kam der Autor des Comics „The order of the stick“ auf eine unverhoffte Million Dollar, ein Design-Projekt sogar auf zehn Millionen.

Derzeit wird durch Crowdfunding für ein originelles Alternativprojekt geworben: eine „gewaltlose Occupy-Wall-Street-Bürgerwehr“. Es gehe dabei um nichts weniger als „die existierenden Machtstrukturen zu zerlegen“ – diese Floskel reicht schon, um Misstrauen zu erwecken. Alle meinten, OWS sei schon lange tot, doch bleiben unter diesem Namen eine Webseite und ein Twitter-Konto aktiv, welche am Anfang der Besetzung von der „transgender Anarchistin“ Justine Tunney angemeldet worden waren. Nachdem sich Tunney mit anderen Promis der Bewegung wie David Graeber überwarf, hat sie die Marke OWS eigenhändig übernommen. Wir wollen jetzt nicht diskutieren, was zum Teufel eine gewaltlose Volksarmee soll. Wahrscheinlich läuft das Konzept auf eine Art Grundeinkommen für Black-Block-Chaoten hinaus. Viel interessanter ist die Tatsache, dass Justine Tunney seit Auflösung der Zuccotti-Park-Besetzung für Google als Software-Ingenieurin arbeitet. Nach eigener Aussage sei sie an Krebs erkrankt und müsse sich daher ausverkaufen – wogegen es nichts einzuwenden gäbe, würde sie nicht gleich dazu erklären: „Zwar operiert Google innerhalb des kapitalistischen Systems, aber sie tun viel Gutes für die ganze Welt. Mehr lesen…

Der User als neuer Habenichts

Everything belongs to you and me, so let’s take a ride and see what’s mine.

 

Es wird immer anders als gedacht. Bisher schienen Kapitalismus und Privatbesitz untrennbar. Nun wird der Privatbesitz vom Kapitalismus zunehmend abgeschafft. Ein Beispiel: Nachdem die Sauereien der Firma Amazon einer breiten Öffentlichkeit bewusst worden sind, haben nicht wenige Kunden ihr Konto gekündigt. Dann kam die böse Überraschung: Pfft, auf einmal war ihre ganze Kindle-Bibliothek gelöscht! Sie meinten, digitale Bücher so wie früher Papierbücher gekauft zu haben; falsch gedacht: Was sie erworben hatten, war „das Recht, Inhalte zu nutzen“, formal also eher mit einem Bibliothek-Konto vergleichbar, nur mit unbestimmter Ausleihfrist und teureren Gebühren. Gewiss kann man da sagen: selber schuld. Es gibt doch genug Möglichkeiten, aus dem Internet Texte, Musik und sonstige „Inhalte“ herunterzuladen, die man dann speichern, verlagern, vervielfältigen und tauschen kann. Und überhaupt ist ein Gang in nicht-digitalen Buch- oder Plattenläden auch nicht verkehrt. Aber wie lange wird das noch gehen? Das Kindle-Modell ist erfolgreich, es wird bereits von vielen anderen Konzernen und Verlagen praktiziert. Es könnte also durchaus sein, dass wir in wenigen Jahren nicht anders tun werden können, als kulturelle Produkte gegen Bezahlung zu nutzen, ohne diese jemals besitzen zu dürfen.

Häufig wird Besitz mir Eigentum verwechselt. Es sind aber zwei verschiedene Begriffe. Ein Mieter ist kein Eigentümer, wohl aber Besitzer seiner Wohnung. Er darf sie möblieren wie er will, niemand kann ihm vorschreiben, was er dort macht oder wen er einlädt. Selbst dem unangemeldeten Vermietern darf er den Zugang zu seinem Wohnsitz sperren. Wiederum ist ein Nutzer nicht unbedingt Besitzer. Zum Beispiel ist der Hotelgast eben nur Gast, der Wirt bleibt in Besitz des von ihm gemieteten Zimmers. Genau das wäre der neuartige Status des digitalen Users. Bei Amazon, Spotify und Konsorten ist er bloß zu Gast, mit entsprechend eingeschränkten Verfügungsrechten. Die Welt wird zum Hotel. Mehr lesen…

Abwesenheitsnotiz

Wer hätte das gedacht: Nachdem sie wochenlang getagt hat, um kleine Meinungsunterschiede herauszufinden, damit keiner auf die Idee kommen könnte, wir lebten nun in einem Einparteisystem, fängt die XXL-Koalition mit ganz neuen Tönen an. So erklärt die Arbeitsministerin Nahles der Bild-Zeitung: „Wir müssen Vollzeit neu definieren. Mit dem Anwesenheitswahn muss Schluss sein“. Donnerwetter, das klingt wie eine späte Anerkennung der Glücklichen Arbeitslosen! Sicherlich ist das bloß eine unverbindliche Aussage. Es kostet nichts, „eine neue Arbeitskultur in den Unternehmen“ zu verlangen; keiner Regierung steht zu, sich in die Hausordnung der Privatwirtschaft einzumischen. Außerdem wird die scheinradikale Parole gleich mit einem erbärmlich biederen Beispiel illustriert: “Dann ist es möglich, dass Papa oder Mama auch mal nachmittags nach Hause gehen, wenn sie das Krippenspiel ihres Kindes anschauen wollen.” Welcher Christdemokrat würde sich da nicht gerührt fühlen?

Nichtsdestotrotz: Nutzen wir diese weise Parole, um unser Recht auf Abwesenheit einzufordern! Wir Abgelenkte, Geistesabwesende, Schwänzer, Blaumacher, Zerstreute und Verträumte aller Couleur wurden viel zu lange diskriminiert. Dabei sein ist nicht alles. Nicht bei der Sache sein ist auch eine gute Sache. Wir lassen uns entschuldigen.

 

Auch das Vergessen will gelehrt werden

negram

Sowjetisches Plakat gegen den Analphabetismus

 

Das Schulkind Deutschland atmet auf, sein PISA-Zeugnis ist dieses Jahr besser als bisher angenommen. Klassenbeste ist es freilich nicht geworden, immerhin hat es sich zwei Pluspunkte geholt. Ob diese Leistung gelobt oder als unzureichend getadelt wird, niemals werden die Autorität und die Kriterien des Examinators angefochten. Dabei verfolgt die OECD, Urheberin der Studie, eindeutige Ziele. „Heute versteht es sich von selbst, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken.“  Diese poetischen Zeilen stammen aus dem Bericht einer OECD-Konferenz anno 1961. Seitdem wird die klassische Bildung durch die wirtschaftsrelevante „Kompetenz“ methodisch ersetzt. Das heranwachsende „Humankapital“ wird für Konsum und Arbeit formatiert, ohne einmal argwöhnen zu können, dass es außerhalb dieser Sphären auch Wissenswertes gibt.
Indoktrination bedeutet nicht unbedingt die Auferlegung einer totalitären Ideologie. Sie fängt schon mit der Selektion bestimmter Fächer und dem Ausschluss anderer an. Ganz oben auf der PISA-Skala steht natürlich Mathe. Der Homo Oeconomicus muss wohl ständig Rechenaufgaben lösen. Auch ist Lesekompetenz in dem Maße wichtig, wie Informationen verarbeitet und Befehle richtig verstanden werden sollen. Dafür sind Literaturkenntnisse nicht erforderlich. Eine naturwissenschaftliche Grundbildung ist für die Karriere von Vorteil und wird entsprechend unterstützt, eine sozialwissenschaftliche dagegen nicht -von Philosophie nicht einmal zu reden. Ein bisschen Ethikunterricht reicht doch, um den Bürgern von morgen die heilige Trinität von Demokratie, Menschenrechte und Toleranz einzubläuen. In Zeiten der Mobilität behält Geographie einen gewissen Wert; man muss wohl wissen, auf welchem Erdteil sich dieser Flughafen oder jener Lieferant befindet. Hingegen spielen für das Ranking Geschichtskenntnisse gar keine Rolle. Der Grund dafür ist ziemlich offensichtlich. Wer glaubt, in einer fortdauernden Gegenwart zu leben, wird seine Lebensbedingungen fraglos hinnehmen.

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Finde den Unterschied

Im Computer des kleinen Jakobs ist ein Datenchaos eingetreten. Hilf ihm, wiederzufinden, welcher Text zu welcher Quelle gehört.

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a) Geheimdienst-Richtlinie 1/76 der Staatssicherheitsdienstes der DDR

b) Die Kunst des Reformierens, Bertelsmann Stiftung, Beiträge für eine gestaltungsfähige Politik 3/2009

TEXT 1:

 Ein geschickter Partizipationsstil zeichnet sich dadurch aus, dass flexible und neue Formen der Inklusion das Widerstandspotenzial großer Interessengruppen und (Teilen) der Opposition aufzubrechen versuchen. Reformen können so konzipiert werden, dass sie manche Interessengruppen begünstigen und andere benachteiligen, um so eine potenziell geschlossene Abwehrfront zu verhindern. (…) Durch eine selektive Partizipation können Vetospieler in ihrer Kohärenz geschwächt, sozusagen ‘gesplittet’, und die Protestfähigkeit bestimmter Interessengruppen gemindert werden.

 TEXT 2 :

 Maßnahmen der Zersetzung sind auf das Hervorrufen sowie die Ausnutzung und Verstärkung solcher Widersprüche bzw. Differenzen zwischen feindlich-negativen Kräften zu richten, durch die sie zersplittert, gelähmt, desorganisiert und isoliert und ihre feindlich-negativen Handlungen einschließlich deren Auswirkungen vorbeugend verhindert, wesentlich eingeschränkt oder gänzlich unterbunden werden.

 

Demotivationsmusik

Albert Aylers fröhliche Philosophie, ein erprobtes Hilfsmittel, um den Tag in der geeigneten Stimmung anzufangen.

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