Die Nuit Debout und ihr Double

Ach, wie schön ist gelebte Demokratie! Auf einem Platz kommunizieren Tausende, nicht über Facebook, sondern face to face, ohne Hierarchie, doch durchweg organisiert. Lückenlos reihen sich die Redebeiträge aneinander. Drei Minuten für die Antispezisten. Drei Minuten gegen das Finanzkapital. Drei Minuten für LGBT. Drei Minuten gegen Postkolonialismus. Drei Minuten für die Weltrevolution. Stundenlang. Tagelang. Aus der Zuhörerschaft kommt kein Applaus, kein Zwischenruf, kein Lacher. Statt dessen zeigen die disziplinierten Zuhörer ihre Zustimmung oder Ablehnung mit Händchenzeichen. Sie liken analog, sozusagen. Es gibt gar Signale um zu zeigen, dass der Beitrag zu lang ist oder dass die Bemerkung gerade sexistisch war. Das Prozedere stammt aus den USA und heisst „twinkle“, was unwillkürlich an das Kindergartenlied „Twinkle, twinkle little star“ erinnert. Tatsächlich hat die Besetzung das Zeug zum selbstverwalteten Freizeitpark. Dazu dürfen Meditationsworkshops nicht fehlen, ebenso wie Trommelgruppen, Malerei, Tanzzirkel und die obligatorischen Nerds, die das ganze per Livestream in die Welt schleudern. Auf diese Weise wird, so eine Aktivistin aus Deutschland, eine neue Art des Zusammenlebens erschaffen, voller Zuneigung, Fürsorge und Liebe. Das echte Leben im falschen.

Da es um das Hier und Jetzt geht, werden keine Forderungen gestellt. So wird keiner enttäuscht sein, wenn eines Morgens auf dem geräumten Platz der hinterlassene Müll von der Stadtreinigung beseitigt wird, dafür die soziale Misere unvermindert bleibt. Wer will überhaupt über eine Perspektive nachdenken? Von der Vielfalt der Wortmeldungen berauscht, übersehen die Teilnehmer leicht, wie sozial homogen sie eigentlich sind, nämlich in der überwiegenden Mehrzahl: weiße Stadtzentrumbewohner aus der Mittelschicht, Studenten, Akademiker, Kulturschaffende. Wer hätte sonst die Zeit, Abend für Abend endlos zu palavern? Wer hätte überhaupt die Lust?

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Verteidigung ist die beste Anklage

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Vom 4. bis zum 9. Mai werde ich die Ehre haben, im Kapitalismustribunal zu Wien für den Kapitalismus zu plädieren. Hier folgt meine  Verteidigungsstrategie.

Gewissermaßen ist jeder Prozess ein Schauprozess. Einer Gerichtsverhandlung ist viel Theatralisches eigen, die Disposition des Saales etwa, die Roben und Perücken, die Effekthascherei, die Dramaturgie der Entscheidungsfindung. Der Staatsanwalt besetzt die Staat-Rolle, die Geschworenen die Volk-Rolle, der Richter die Justiz-Rolle. Alles funktioniert im Als-ob-Modus. Verhandelt wird, als ob aus der Gegenüberstellung von belastenden und entlastenden Aussagen so etwas wie „die Wahrheit“ zutage treten könnte. Verurteilt wird, als ob die Strafzumessung „der Gerechtigkeit“ entspräche. Es waren im antiken Griechenland die Sophisten, die die prozessuale Rhetorik der Plädoyers und Anklagereden entwickelten. Sie ließen sich dafür teuer bezahlen. Damals bereits neigte die Waage der Justiz dazu, in Richtung des schwereren Geldes auszuschlagen. Gerade als Reaktion gegen die Sophisten war die Philosophie entstanden, gegen die Vorstellung, dass die Wahrheit nach Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Doch nach wie vor verbindet das Theater mit der Justiz (sowie mit der Politik) der Umstand, dass innerhalb dieser Sphären die Trennung zwischen Wirklichkeit und Darstellung nicht aufrecht erhalten werden kann.

Vordergründig wird das schauspielerische Element, wenn ein Gericht über die Gewalt nicht verfügt, eine Strafe zu verhängen oder ein Urteil vollziehen zu lassen. Musterbeispiel dafür war das Vietnam War Crimes Tribunal, das 1967 von dem Philosophen Bertrand Russell aufgerufen wurde. Das Russell-Tribunal war eine öffentlichkeitswirksame Inszenierung. Sie entsprach dem damals üblichen Selbstverständnis des engagierten Intellektuellen als öffentlicher Ankläger – J’accuse! Der Ausgang war vorbestimmt, eine kontradiktorische Vernehmung fand nicht statt, kein Inkriminierter hielt es für nötig, einen Verteidiger hinzuschicken. Dabei ermöglichte der fiktive Rahmen eine Aufdeckung des Realen: die präzise, sachkundige Beweisaufnahme für Kriegsverbrechen der US-Armee in Vietnam. Das Tribunal, darin bestand seine skandalöse Schlagkraft, war ein umgekehrtes Reenactment der Nürnberger Prozesse, indem die Ankläger von damals jetzt auf der (imaginären) Anklagebank saßen und die von ihnen erstellten Straftatbestände selber zu verantworten hatten: Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gar Genozid. Den späteren Russell-Tribunals (über Menschenrechtsverletzungen in Südamerika, Südafrika, Palästina, der BRD) fehlte diese symbolische Brisanz, daher verblassten sie zu folgenlosen Politevents.

Wie steht es jetzt um das „Kapitalismus-Tribunal“? Natürlich haben wir es ebenfalls mit einem symbolischen Verfahren zu tun. Das Theatralische wird gar bewusst in Anspruch genommen. Hier auch geht es darum, mittels des Gespielten an das Ernsthafte, mittels der Fiktion an das Reale zu kommen. Dennoch besteht ein wesentlicher Unterschied zum Russell-Tribunal. Damals waren die Angeklagten klar definiert: das Weisse Haus und das Pentagon. Und der Gegenstand des Prozesses war eindeutig eingerahmt, es ging um Kriegsverbrechen, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort begangen worden waren. Anders im Kapitalismus-Tribunal. Um es ohne Umschweife zu sagen: Wir werden hier mit einer logischen Inkonsistenz konfrontiert. Einerseits wird die Frage gestellt, ob „der Kapitalismus ein Verbrechen“ sei, andererseits wird versucht, die „Schuld des Kapitalismus“ zu bestimmen. Das heisst, dass Prozessgegenstand und Angeklagter, Tat und Täter identisch sind! Wir werden ersucht, die schwierige Frage zu lösen, ob der Kapitalismus am Kapitalismus schuld ist. Eine Tautologie, gewiss, aber das ist nicht weiter schlimm. Die Ob-Frage ist eine rein rhetorische. Ein Freispruch wird von niemandem erwartet, ohnehin steckt bereits ein Urteil drin, wenn man das K-Wort und nicht „freie Marktwirtschaft“ sagt. Wichtig ist nicht das Ob sondern das Wie, nicht die Urteilsverkündung sondern der Weg dahin. Mehr lesen…

Die Wegkuratierung des Widerspenstigen

Viele werden mir vorhalten, mein Beitrag sei subjektiv, persönlich und minoritär. Na und?“ (Pasolini)

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Einmal machte der französische Hofintellektuelle Jacques Attali eine interessante Bemerkung: Im Grunde, sagte er, ist heute jeder Standort, ob Land oder Stadt, nichts anderes als ein Hotel. In dieser Hinsicht ist es zwar wichtig, dass die Eingesessenen angemessen bezahlt werden und annehmbare Arbeitsbedingungen bekommen. Wichtiger ist aber, dass das Personal Eines begreift: Es ist nur da, um internationale Gäste zu empfangen und zu bedienen, jene globale Klasse, die für Forschung, Innovation und Wertschöpfung sorgt. Lässt der Service zu wünschen übrig, dann ziehen die Gäste in ein anderes Hotel und der Standort verkommt. Von diesem Modell verspricht sich Attali viele Vorteile und gar die Ankunft des ewigen Friedens: „Man kann sein Leben für ein Territorium, eine Kultur oder für Werte opfern; aber wer wäre schon bereit, für ein Hotel zu sterben?“

Daran musste ich denken, als Chris Dercon, der designierte Intendant der Volksbühne, im Interview erklärte: Berlin ist heute eine kosmopolitische Stadt. Hier leben viele hochgebildete junge Leute aus der ganzen Welt und sie können kein Deutsch. Da haben wir doch ein Problem mit dem deutschsprachigen Theater. Es wäre ja ungastlich, wenn nicht arrogant, auf einem Repertoire zu beharren, das die neuen Wahlberliner nicht verstehen. Für sie soll sich also die Volksbühne nicht-verbalen Kunstformen wie Tanz oder Performance öffnen. Zudem arbeite der Kurator an „einer neuen Art von Sprache“, ein Volksbühnen-Volapük, das er “Wortensembles” nennt. Die Bemerkung ließ Dercon unter vielen ähnlich gekünstelten Phrasen fallen; freilich kann man sie als Teil des obligaten Bewerbungsquatschs ignorieren. Doch ist sie als Symptom interessant. Hier haben wir es nicht bloß mit einem weiteren Intendantenwechsel in einem der vielen Häuser der Republik zu tun. Im Grunde geht es um die Art, Stadt zu besehen und neu zu definieren. Oder etwas pathetisch formuliert: um die Neutralisierung des Politischen. Darum dürften da selbst Menschen aufhorchen, die mit Theater nichts am Hut haben.

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Gesicht verbergen

Staffs Wear No-Face Masks To Reduce Pressure During Working Time In Handan

Im klassischen chinesischen (wie griechischen) Theater trugen die Schauspieler eine Maske, die ihre Rolle verdeutlichte. So konnten die Zuschauer identifizieren, wer der Choleriker, der Verliebte, der Eifersüchtige war. Sie interessierte das „Innere-Ich“ des Darstellers nicht. Dieser Tradition entnahm Karl Marx den Begriff der „Charaktermaske“. Damit meinte er: Sobald wir in ökonomischen Verhältnissen stehen, tragen wir eine Larve – man spricht ja häufig von „Funktionsträgern“- die unsere subjektiven Regungen verbirgt.
Daran werden die Manager in der chinesischen Stadt Handan gedacht haben, als sie kürzlich den Dienstag zum „gesichtslosen Tag“ erklärten. Die Angestellten werden aufgefordert, am Arbeitsplatz schwarz-weisse Masken zu tragen, die einem japanischen Film mit dem passenden Titel „Spirited away“ entliehen sind. Einmal in der Woche müssen sie nicht verkrampft Kunden und Chefs anlächeln, die Masken lächeln für sie. Sie können Ausdrücke von Müdigkeit und schlechter Laune zulassen, ohne die Angst, ihr Gesicht zu verlieren.
Die seltsame Maßnahme ist alles andere als eine PR-Spielerei. Es geht darum, eine Plage zu bekämpfen, die laut chinesischem Rundfunk Tag für Tag 1600 Sterbefälle verursacht: Guolaosi, den Tod durch Überarbeitung. Menschen, die bisher kerngesund waren, sterben infolge von Stress und Überstunden an Erschöpfung, Blutungen oder Herzversagen. Bis vor kurzem wurden sie gut stalinistisch als Helden der Arbeit gepriesen, die sich „für Volk und Partei“ selbstlos geopfert hatten. Nun hat das Ausmaß der Epidemie wirtschaftliche Konsequenzen. Vor allem haben die Betroffenen angefangen, gegen die tödlichen Arbeitsverhältnisse mit Streiks und der Gründung inoffizieller Gewerkschaften zu reagieren. Das Maskenexperiment soll die gefährliche Lage entspannen.
Es bleibt zu erwarten, ob die Strategie nicht in ihr Gegenteil umschlagen wird. Denkbar wäre, dass die Beschäftigte mehr Mut bekämen, durch ihre Masken ihr Anliegen offen auszusprechen. Schließlich meinte Oscar Wilde: „Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er für sich selbst spricht. Gib ihm eine Maske und er wird dir die Wahrheit sagen.“

 

Alles für die Katz

Again comes the rising of the sun

Another day when we’ve begun
The unfinished chores of yesterday

„Merken Sie sich: Das, was uns als überlegene Wesen der Schöpfung kennzeichnet, ist unsere Fähigkeit, drei Schritte rückwärts zu machen, um Schwung zu holen und ein Hindernis zu überspringen.“ So dozierte vor hundertzwanzig Jahren ein bärtiger, zwickertragender Professor vor einem begeisterten Auditorium. „Diese Fähigkeit heisst Zweckrationalität. Sie lässt sich am Besten mit dem Umweg der Produktion veranschaulichen. Ein Naturvolk, das sich von der Hand in den Mund ernährt, wird von Knappheit und Unsicherheit geprägt und geplagt. Wir Zivilisierte haben diesen Zustand überwunden, indem wir einen Umweg zu machen wissen. Es wird gepflügt, gesät und geerntet, das heißt: Die Befriedigung wird temporär verschoben, um in einem größeren Ausmaß gesichert zu werden.“ Dieser Rede zollte das Publikum heftigen Beifall. Alle waren für die weltliche, rationale und fortschrittsoptimistische Erklärung dankbar. Nein, die Arbeit war kein Fluch, sondern ein Segen, keine göttliche Strafe, sondern selbsterrungene Nobilitierung. In ihrem Enthusiasmus merkten sie nicht, wie anachronistisch das Argument eigentlich war. Wie Bauern sahen sie nicht aus, die vornehmen Zuhörer. Ihr Geschlecht hatte sich längst von der Scholle emanzipiert, sie waren alle Geschäftsleute, Ingenieure, Notare. Ohnehin waren im Lande immer weniger Menschen mit der Nahrungsmittelgewinnung beschäftigt. Und doch wähnten sich alle in jener imaginären Agrarwelt, wo man ackern muss, um sein Brot zu verdienen.

We set about to find our way
We always finish and begin
We go through life until the end

„Mein Sohn, du wirst von mir ein schönes Vermögen erben“, sagte der sterbende Finanzier. „Dafür musst du wissen, was dein Vermögen vermag. Vermehrst du es nicht, dann verlierst du es. Damit es sich vermehrt, muss aber dein Geld einen Umweg machen. Es muss sich in Waren umwandeln, die sich wiederum in mehr Geld, und in mehr Waren, und in noch mehr Geld umwandeln, in einer endlosen Metamorphose, einer sich beschleunigenden Spirale, einem Wachstumszyklon, der alles, Mensch und Tier, Wasser und Luft, Himmel und Erde, Wirklichkeit und Traum, Geschlecht und Charakter, Ornament und Verbrechen mitreißen wird. Die Warenwelt ist die wahre Welt. Alles andere ist Schein und Trug. Lass die Beschäftigten glauben, sie leisten etwas Nützliches. Rede ihnen ein, dass du wie sie nur deinen Job machst. Sei blind, sei taub, erlass keine Schuld. Denk nur an dich. Du bist allein mit der Gottheit. Du bist der Alchemist, der aus Kot Kapital macht. Du bist der Träger jener ungeheuren Kraft, die keine Rast, keine Sicherheit und vor allem: kein Ende kennt. Fürchte nicht den Tod, dein Geld lebt ewig. Ewig. Ewig. Ewghhhh.“

And here are the things we do
We build it up, and tear it down
We start all over, and make it round

Lässig räkeln sie sich auf dem Sofa und umklammern sich und lecken sich gegenseitig. Sie schlafen einen langen, traumreichen Schlaf. Danach rennen sie raus. Springen nach einem Schmetterling. Klettern auf einen Baum. Gelegentlich fangen sie eine Spitzmaus, das aber nur aus Spiel. Ihr täglicher Essbedarf wartet ja im Napf. Katzen haben ein langes Gedächtnis. Sie wissen, wie es ihren Vorfahren erging. Ständig auf der Suche nach einer hypothetischen Beute. Im Regen und Frost zitternd. Von Feinden bedroht. Abgemagert. Krank. Verkrüppelt. Zum Glück ist die Urzeit längst vergangen. Heute ist ihre Umwelt äußerst freundlich und zuvorkommend. Werden sie krank, kommt der Tierarzt. Wird es kalt, legen sie sich auf den Heizkörper. Die Nahrung ist sicher. Sie haben nichts anderes zu tun als kuscheln, spielen, sich gegenseitig lecken. Sie leben länger und sterben einen sanften Tod. Der Kampf ums Dasein ist vorbei. Stolz sind die Katzen, die Evolution in die eigenen Pfoten genommen zu haben. Sie schnurren: „Wie schön, dass wir die Menschen domestiziert haben!“

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Technik des Terrors, Terror der Technik

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Nein, am Islam allein kann es nicht liegen. Wenn hunderte von jungen Menschen, in Europa geboren und weltlich erzogen, sich plötzlich einer Terrororganisation anschließen und sich zu Mord, Vergewaltigung und Versklavung bekennen, dann ist auch etwas in Europa faul. Man kann die Schuld nicht einem fremden Virus zuschieben. Mitverantwortlich ist zumindest das defiziente Immunsystem. So wünschenswert es wäre, dass Moslems sich mit ihrer Kultur kritisch auseinandersetzen, die aufgeklärten Bürger des Westens werden nicht umhin kommen, vor dem eigenen Haus zu kehren.

Zur Diagnose gehören kulturelle Befunde, auch wenn sie für das Gesamtbild nicht ausreichen: Der Dschihadismus hat es geschafft, Codes und Gesten der Jugendkultur zu pervertieren. Damit wird offensichtlich ein Vakuum besetzt. Denn eine rebellische Gegenkultur gibt es schon lange nicht mehr. Sie hat sich in Trends aufgelöst. Zieht sich ein Mädchen einen Punk-Outfit an, schmunzeln ihre Eltern gerührt. Verwandelt sie sich aber in eine vollverschleierte Fledermaus, ist die Schockwirkung garantiert. Es sind keine Experten nötig, um zu wissen, weshalb ein gelangweilter junger Mann aus seinem Kuhdorf ausreißt. Bloß, vor vierzig Jahren wäre er in einer Hippie-Kommune gelandet; heute taucht er als Geiselschlächter in Syrien wieder auf. Es ist die Jugendrevolte in Zeiten ihrer Unmöglichkeit, die Metamorphose von Lustprinzip in Todestrieb. Mehr lesen…

Immer gerechter zu

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Konversation in einem senegalesischen Dorf:

„Hey, Mamadou, ich habe eine tolle Nachricht: Wir können nach Europa auswandern!“

„Echt? Wieso geht das auf einmal?“

„Wir müssen nur aussagen, dass wir schwul sind und aufgrund dessen hier verfolgt werden.“

„Ich bin aber nicht schwul!“

„Dann musst du es werden.“

„Reicht es nicht, nachzuweisen dass ich hier verhungere, keine Zukunftschancen habe und politisch unterdrückt bin?“

„Nein, das alles interessiert die Tubabs nicht. Da lassen sie dich vor Lampedusa ertrinken. Nur die Schwulen werden reingelassen. Das hat der europäische Gerichtshof gerade entschieden. Ohne Coming-Out kein Coming-In.“ Mehr lesen…

Räuberinseln

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Es gab eine Zeit, als Menschen, die mit den Gesetzen ihres Landes unzufrieden waren und keine Hoffnung hatten, sie zu verändern, staatenlose Erdflecken besiedelten, um dort ihre Utopie zu verwirklichen. Diese Option hat sich schon lange erschöpft. Der ganze Erdball steht unter der Hoheitsgewalt irgendeines Staates. Der ganze? Nein! Offshore kann man sich nationalen Gesetzen entziehen. Das nutzten schon die Piraten-Radios der 60er Jahre, die von internationalen Gewässern aus sendeten und staatliche Rundfunkmonopole umgingen. Auf die Idee sind jetzt neuartige Utopisten gekommen. Sie haben vor, auf künstlichen Inseln Mikronationen zu gründen. Die Baupläne liegen bereits vor, das Geld für die Umsetzung wird emsig gesammelt. In einem ersten Schritt will man die schwimmenden Städte bei „Billigflaggen-Staaten“ wie Panama registrieren lassen, das Ziel sei jedoch die vollständige Souveränitätsanerkennung der UNO.

Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied zu den früheren Auswanderern auf der Suche nach einem besseren Leben. Diese waren arme Leute, die in ihrem Herkunftsland aus politischen, religiösen oder rassistischen Gründen verfolgt wurden. Die Neugründer von heute gehören zu den Führungskräften und Aktionären von Facebook, Amazon, Apple und weiteren Potentaten des Silicon Valley. Unlängst erklärte Balaji Srinivasan, Gründer eines Genomik-Unternehmens, die USA seien das „Microsoft der Nationen“ geworden. Es habe keinen Zweck, sie reformieren zu wollen, viel effektiver wäre, dem obsoleten Mammut den Rücken zu kehren, um eine eigene Startup-Nation zu gründen. Deutlicher sprach Google-Gründer Larry Page: „Es gibt eine Menge Dinge, die wir gern machen würden, aber leider nicht tun können, weil sie illegal sind. Wir sollten ein paar Orte haben, wo wir sicher sind.“ Damit wird klar, welche Art der Befreiung anvisiert ist: die Freiheit von Datenschutz, Arbeitsgesetzen, Tariflöhnen und sonstigen demokratischen Scheußlichkeiten. Das Freibeuterprojekt wird von einem Seasteading institute koordiniert, dessen Leiter der Enkel des neoliberalen Übeltäters Milton Friedman ist. Die neoliberale Utopie hat alle Kontinente verwüstet, nun sucht sie ihre letzte Zuflucht auf hoher See.

 

Absichtserklärung

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Ist der Liberalismus das geworden, was Sartre einst vom Marxismus behauptete: der unüberschreitbare Horizont unserer Zeit? So sieht jedenfalls die hiesige Meinungsvielfalt aus: Endlos debattieren Linksliberale mit Liberal-Bürgerlichen, Kulturliberale mit Wirtschaftsliberalen, mal wird nach mehr Toleranz gerufen, mal nach weniger Steuern, ansonsten gelten die Grundsatzfragen als geklärt. Außerhalb dieses konformen Geländes lauert nur das Böse und Gestrige: Sittenwächter, Fundamentalisten, Populisten, Homophobe und Raucher. Die Furcht davor sorgt für den Zusammenhalt. Man will schon „gegen Rechts“ sein – und verortet sich allein aus diesem Grund „irgendwie links“. Keiner möchte als konservativ auffallen, und billigt deswegen jeden duseligen Hype. Jede erlebte Verschlechterung wird mit dem Argument geduldet: Wir haben es noch gut, im Reich des kleineren Übels. Freilich werden revolutionäre Phrasen immer gern goutiert, doch an eine konkrete Umsetzung glaubt niemand im Ernst. Wer die liberalen Kategorien von Individualität, Konkurrenz und Freiheit anerkennt, sollte es mit Antikapitalismus lieber sein lassen. Der Weg aus dem geistigen Konformismus beginnt mit der Aberkennung der entweder-oder-Linie. Die Freiheit soll von ihrer liberalen Entwendung befreit werden. Die diffuse Unzufriedenheit mit der Welt in ihrem jetzigen Zustand darf nicht reaktionären Rattenfängern überlassen werden. Die Ideen müssen wieder gefährlich werden. Dissidenz wird geprobt.

Im Reich des kleineren Übels ist eine Veranstaltungsreihe, die ich im Roten Salon der Volksbühne organisiere und moderiere. Diese Zeilen weisen auf die programmatische Richtung hin. Der erste Abend, Der coole Klaasenfeind, findet am 7. Okt. um 20.00 Uhr statt.

Das Leben der Wörter

liebe

Um die Liebe ist es schlecht bestellt. Das ist keine subjektive Behauptung von mir, sondern das Ergebnis einer Suche bei Ngram Viewer. Trotz aller Vorwürfe gegen Google, ich muss zugeben, dass diese Funktion wirklich spannend ist. Ngram sucht chronologisch nach der Häufigkeit eines Wortes im Corpus aller Bücher, die in Googlebooks gespeichert sind, Belletristik wie Sachbücher. Wenn man also dort nach der Liebe sucht, stellt man fest, dass diese seit der Hochzeit der Romantik ständig abgenommen hat. Unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg schien sich zwar die Liebe zu erholen, doch ging es dann schnell wieder bergab. Der historische Tiefstand der Liebe wurde 1974 erreicht, seitdem stagniert sie kläglich. Im Gegensatz dazu ist Ficken besonders seit den Spätachzigern exponentiell gewachsen, doch dürfte das niemand überraschen. Mehr lesen…